Stories (German language)





Die Menschen spürten, dass Martin verwundbar war. Die Menschen spürten, dass er zu nett war. Und das nutzten die Menschen schamlos aus ...

Es war ein Abend etwa zehn Monate, nachdem ihn Gabi verlassen hatte. Martin war noch immer nicht über die Trennung hinweg gekommen. Gabi war mit ihrer beider Sohn aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen. Die beiden lebten jetzt bei Gabis neuem Freund, dem Mann also, der die Frechheit besessen hatte, eine verheiratete Frau zu umwerben, und auch nicht davor zurückgeschreckt hatte, eine Familie zu zerstören.

Martins Welt, sein Leben war total zusammengebrochen. Er glaubte, fast alles verloren zu haben. Er fühlte eine endlos große Leere in sich und um sich herum. Er kam sich vor wie ein Grashalm, der umher geweht wird, gekränkt, zurückgewiesen, ausgetauscht. Nicht mehr geliebt zu werden von dem Menschen, den er am meisten liebte, fühlte sich an, als wäre er weggeworfen worden in die Welt. Das Schlimmste daran war für ihn das Gefühl, verlassen und alleine zu sein, keine Perspektive, keine Hoffnung zu haben. Martin hatte Angst. Er stand innerlich vor einem großen Loch. Er war fassungslos, vollkommen neben der Spur, auch durch die - teilweise falschen - Medikamente, die ihm Ärzte und Psychiater verschrieben hatten.

Nach einem Selbstmordversuch und unter ständiger Einnahme von Antidepressiva hatte sich Martin dann in eine Kette verzweifelter Versuche gestürzt, möglichst schnell eine neue Frau zu finden. Er war jeden Tag auf dating sites im Internet unterwegs gewesen, hatte es mit Partner-Agenturen und Kontaktanzeigen in Zeitschriften probiert. Er war viermal ins Ausland gereist, immer verbunden mit der Zuversicht, jetzt die Richtige gefunden zu haben oder sie zu finden. Die Suche nach einer Frau dominierte sein Leben. Er war abhängig davon, geliebt zu werden.

Doch alle Bemühungen waren gescheitert – und Martin war immer nur noch konfuser, noch mehr von der Rolle, noch mehr von Sinnen, noch labiler geworden. Er hatte sein Leben neu aufbauen und vereinfachen wollen, dabei das, was er dann weniger machte, umso intensiver erleben und erfühlen, mehr seine eigenen Emotionen entdecken, die einfachen Dinge genießen wollen. Stattdessen taumelte er aber verbissen von einem Unterfangen zum nächsten, immer auf der Suche nach dem schnellen Kick und dem schnellstmöglichen Erfolgserlebnis. Er war ruhelos, getrieben und ungeduldig. Er verdrängte sein Scheitern, den Schock der Trennung, seine Trauer und Depression durch Aktionismus und gab sich nicht die Möglichkeit, sich zu sammeln und mehr Klarheit zu bekommen, oder mit Freunden über das Erlebte zu sprechen. Er war so unfähig, sich selbst wahrzunehmen, sich selbst anzuerkennen, sich selbst zu lieben, dass er sich selbst leugnete. Er blendete sich aus.

Es war wie ein Film, der nur unter Beteiligung des Regisseurs und der Schauspieler entstand, aber ohne Drehbuch, ohne Konzept: Martin war Akteur in seinem eigenen Drama. Er inszenierte das Drama, jeden Tag, und er trat in ihm auf. Doch er konnte dieses Stück, und sich selbst, nicht von außen betrachten, konnte oder wollte nicht ändernd eingreifen.
Er dachte zwar über das nach der Trennung Geschehene nach. Doch er drang nicht bis an die Wurzel, die grundlegende Ursache für die Geschehnisse vor. Diese lag in ihm selbst. Er dachte nicht darüber nach, warum er das alles tat.


Seine vorletzte Reise hatte ihn in eine Stadt geführt, in der er für wenig oder gar kein Geld Sex bekommen hatte: St. Petersburg. Er bekam auch Sex ohne Kondom, und den genoss er um vieles mehr als den Kondom-Sex, den er bei Prostituierten in Hamburg kaufen konnte.

Nach seiner Rückkehr aus St. Petersburg hatte es sich Martin deshalb in den Kopf gesetzt, nach Sex ohne Kondom Ausschau zu halten. Er hatte sich vor allem dazu entschieden, sein Leben in St. Petersburg erst einmal so in Hamburg weiterzuführen! Ein angesichts der herben Enttäuschungen, die er in St. Petersburg erfahren musste, sonderbar anmutender Entschluss. Dieser bedeutete, nicht zu arbeiten, Zeit zu haben, nachts wegzugehen, in Diskotheken zu gehen und Frauen kennenzulernen. Martin ahnte nicht, dass er eine für die kommenden Monate folgenreiche Entscheidung getroffen hatte …

Zu dieser Zeit war Martin immer analytischer, immer kontrollierter geworden, betrachtete seine Umwelt wie unter einem Seziermesser. Das behagte ihm keineswegs und sollte sich schnell ändern. Er wollte Kontrolle verlieren.

Er war, wieder, für einige Wochen krank geschrieben. An einem der vielen einsamen Abende zuhause vor dem Fernseher sah Martin eine Diskussion über K.o.-Tropfen. Die Idee, selbst eine Frau mithilfe von K.o.-Tropfen zu entführen und zu vergewaltigen, schien ihm leicht umsetzbar zu sein. Die Vorstellung erregte ihn. Er war so verzweifelt einsam und gierig nach Sex, dass er am nächsten Tag ausgiebig im Internet nach geeigneten Produkten recherchierte. Flüssigkeiten und Substanzen, die den Effekt von K.o.-Tropfen hatten oder aus denen sich solche herstellen ließen.

Dabei stieß er auf zahlreiche Geschäfte in Hamburg-St. Georg. Er ging also los und kaufte das, was er bekommen konnte und was ihm brauchbar erschien. St. Georg ist ein berüchtigter Stadtteil, in dem sowohl Straßenprostitution als auch Drogenkonsum täglich anzutreffen sind.

In St. Georg begegnete er der rumänischen Prostituierten Mirabella. Sie war bereit, für 50 Euro Sex ohne Kondom mit Martin zu machen. Das war der Beginn eines zwanghaften sexuellen Verhaltens. Martin suchte verzweifelt eine Frau. Er suchte Liebe, aber in seiner Verzweiflung nahm er auch gerne Sex ohne Liebe. Und der Sex sollte ohne Kondom stattfinden, so wie in einer Liebesbeziehung. Diese Obsession sollte Martin in den folgenden Wochen in noch tiefere Abgründe drängen...

Etwa eine Woche später gab Martin einer Junkie-Hure 20 Euro für Stoff und eine Nacht. Sie ging in das Hotel „Zum Tower“, um die Droge zu konsumieren – und kam, wie vorauszusehen, nicht zurück. Eine weitere Enttäuschung für den blauäugigen Martin. Doch der pirschte weiter und traf auf Petra. Sie kauften beim „Drob Inn“ Stoff, fuhren mit der Bahn zu Martin nach Hause (sie nahm Drogen in der Bahn!), sahen dort Filme, rauchten, badeten, hatten Sex ohne Kondom und schliefen erst um halb 6 am Morgen ein. Martin machte seine erste Heroin-Erfahrung.

An jenem Abend nun sollte Martin in nur Stunden ganz viele bittere Lektionen bekommen. Er hatte sich nach seinem Training nach St. Georg begeben und war als erstes in den „Zaubertrank“ gegangen, um dort eine Flüssigkeit zu kaufen, die er für seinen Plan mit den K.o-Tropfen verwenden wollte.

Auf dem Weg zum Steindamm traf er eine Frau, die bereit war, eine Nacht mit ihm zu verbringen. Sie wollte ihn aber erst einmal besser kennen lernen und schlug deshalb vor, er könne sich mit ihr für ein „Tischgeld“ von 20 Euro und einem spendierten Drink in eine Bar setzen und unterhalten. Martin sagte ihr, er würde 50 Euro vom Geldautomaten holen und dann zu ihr zurückkommen.

Martin zog also das Geld vom Automaten und drehte dann noch eine Runde, um zu schauen, ob er Mirabella oder Petra sehen würde. Er sprach einige Frauen an, ob sie bei ihm zu Hause schlafen würden.

Eine Drogensüchtige willigte ein. Ihr Mann säße zur Zeit in U-Haft. Sie müsse um 23 Uhr noch eine Freundin anrufen, um zu erfahren, ob diese nach St. Georg kommen würde. Sie verabredeten sich deshalb für 23 Uhr bei den Telefonzellen am Vorplatz vor dem Steintorweg. Martin sagte ihr, er würde solange ein bisschen herumgehen.

Er ging den Steintorweg hinunter und traf Katarina, 33, Crackraucherin. Nach einer Chemo-Therapie vom Krebs geheilt. Er mochte sie. Sie wirkte nicht wie eine Drogensüchtige. Sie willigte ein, zu ihm zu kommen, wollte aber vorher noch für 45 Euro Crack kaufen. Sie hätten dann auch mit ihrem Auto zu ihr in die Kieler Straße fahren können.

Martin ging mit Katarina zum „Drob Inn“. Sie unterhielten sich nett. Sie erzählte Martin von ihrem Geburtstag zwei Tage zuvor, an dem ihr 200 Euro und ihre Handtasche gestohlen worden waren. Sie sagte Martin, dass sie manchmal tanzen gehen würde. Das gefiel ihm.

Am “Drob Inn“ gab Martin Katarina seine 50 Euro, sie gab ihm ihr Handy. Sie verschwand mit ihrem Dealer und Martin musste ewig lange auf sie warten. Er war froh, dass er ihr Handy – als Sicherheit – hatte.

Schließlich fand sich Katarina wieder ein. Sie entschuldigte sich bei Martin und erklärte, dass der Dealer nicht genügend „Steine“ vorrätig gehabt hätte und es deshalb etwas komplizierter war und länger dauerte. Wie vereinbart gab sie Martin den Stoff. Er sollte ihr ihr Handy geben, sie begann zu telefonieren (zumindest wirkte das so ...). Ein Mann ging gemeinsam mit ihnen. Sie sagte, sie wolle von ihm noch Dope kaufen. Sie riet Martin, das Crack in die Unterhose oder in den Mund zu stecken, weil Zivilpolizisten unterwegs wären. Also steckte er das „Packet“ in den Mund. Er sagte Katarina, er würde besser getrennt von ihr weitergehen, um kein Aufsehen zu erregen. Sie schlug vor, er solle am Parkhaus am Ende des Steintorwegs auf sie warten, sie würde das Dope kaufen und sie würden dann ihr Auto aus dem Parkhaus holen.

Martin ging also zum Parkhaus, hypernervös wegen des Cracks in seinem Mund, und wartete. Er sprach lange mit einer Prostituierten. Katarina kam nicht. Eine Vorahnung beschlich ihn. Er ging zurück zum Vorplatz und sah die erste Drogensüchtige. Er fragte sie, ob sie auf ihn warten würde, es war mittlerweile schon nach 23 Uhr. Sie hatte noch nichts von ihrer Freundin gehört, und sie vereinbarten, dass Martin noch ein bisschen gehen sollte.

Er ging zurück zum Parkhaus. Keine Spur von Katarina. Er ging weiter zur Brennerstraße, zu der Frau mit dem „Tischgeld“. Da er die 50 Euro schon wieder los war, überredete er sie, sich für 10 Euro plus einem spendierten Drink mit ihm in eine Bar zu setzen. Als sie diese eben betreten wollten, tauchte unversehens Petra auf. Martin bat die „Tischgeld“-Frau, in der Bar kurz auf ihn zu warten, da er Petra „kennen“ würde.

Petra sah so restlos ausgelaugt aus, wie er sie noch nicht gesehen hatte. Sie sagte, sie wäre in den beiden Tagen, nachdem sie bei ihm war, fast nur in St. Georg unterwegs gewesen. Sie hätte einen „Affen“. Sie fragte Martin nach Geld. Der hatte nur noch 4 Euro für den Drink in der Bar. Er bot Petra deshalb an, zu ihm zu kommen. Er habe noch das Heroin vom Samstag zu Hause. Und er habe Crack für 50 Euro bei sich. Das würde für sie reichen.

Petra war sehr skeptisch, ob das für sie reichen würde, da sie sehr viel Heroin brauche. Doch sie wollte sich das Crack einmal ansehen. Martin versuchte noch, seine 10 Euro von der „Tischgeld“-Frau zurückzubekommen, erwartungsgemäß vergebens. Petra und er gingen ein bisschen, und im Treppenhaus eines chinesischen Restaurants gab er ihr das Crack-Packet. Sie biss hinein. Sofort sagte sie Martin, was er schon geahnt hatte: Das war kein Crack, das war ein Kieselstein. Katarina hatte ihn perfekt verarscht. Petra warf das Packet auf den Fußboden. Martin war am Boden.

Sicherlich waren die 50 Euro für ihn zu verschmerzen. Aber die Gewissheit, wieder einmal mustergültig hereingelegt worden zu sein, kroch langsam in ihm hoch und schnürte ihm die Kehle zu. Es war eine Ohnmacht, er musste sich eingestehen, offensichtlich zu naiv, zu gutgläubig für das Drogenmilieu zu sein. Gemeinsam mit Petra umherzulaufen half ihm in diesem Moment noch dabei, seine Gefühle abzudämmen.

Sie gingen zurück in die Brennerstraße, dort, wo Martin Petra vorher getroffen hatte. Er gab ihr die in seiner Tasche verbliebenen 4 Euro. Sie stieg zu einem alten Mann in den PKW, Martin wusste nicht, ob sie von dem Mann Heroin kaufen wollte oder ihn sexuell befriedigen würde, um noch etwas Geld zu bekommen. Als sie zurück auf die Straße kam, schien sie Martin mehr und mehr zu entschwinden. Er trottete ihr in den Steindamm hinterher. Dort betrat sie plötzlich, gleichzeitig mit einem Mann, das Hotel „Blauer Engel“ und Martin wurde klar, dass er Petra für diese Nacht abhaken konnte.

Martin war durcheinander und ernüchtert, doch er hatte noch immer nicht genug. Er schlurfte in den Sex-Shop „WOS/World of Sex“. Er ging wieder auf die Straße und kam mit einer weiteren Frau nett ins Gespräch. Doch die war nicht dazu bereit, eine ganze Nacht mit ihm zu verbringen.

Martin traf auf Mirabella. Auch bei ihr versuchte er sein Glück. Doch sie wollte nur ins Hotel mitgehen, nicht zu Martin nach Hause. Sie klagte ihm ihr Leid, ihr Baby wäre im Krankenhaus.

Martin sah Sabine Burmeister. Das war die Tochter von Martins langjähriger Arbeitskollegin. Martin kannte sie noch als junges Mädchen, er war Gast auf ihrer Hochzeit gewesen und hatte die Geburt ihrer Tochter miterlebt. Doch mittlerweile war Sabine ein Wrack. Sie war an falsche Freunde geraten, drogensüchtig geworden, und inzwischen verkaufte sie ihren Körper auf dem Straßenstrich. Sabine war es offenkundig peinlich, am Ort ihres Gewerbes Martin zu begegnen.

Endlich begab sich Martin auf den Heimweg. In der S-Bahn gingen ihm johlende „St. Pauli“-Fußball-Fans endlos auf die Nerven. Jetzt endlich wünschte er sich nur noch Ruhe, jetzt begann es ihm zu dämmern, dass er sich auf die Ahnungsseite der Schattenseite des Lebens begeben hatte, jetzt begann er zu verstehen, dass es zu Selbstzerstörung werden konnte, wenn er immer wieder und immer tiefer in die Zerstörung und das Chaos von St. Georg eintauchen würde.

Er fühlte sich unendlich ausgenutzt und getäuscht, ja, vorgeführt. Plötzlich übermannten ihn intensive Emotionen. Er kam sich zusammengeschrumpft vor, so klein wie ein Kind, wehrlos, hilflos, schwach. Er sehnte sich nach Schutz, nach jemandem, der ihn wärmend in die Arme nehmen würde. Ihm kamen die Tränen und er versuchte krampfhaft, sie hier in der Bahn zu unterdrücken, nicht lauthals loszuheulen und dadurch sein Scheitern preiszugeben ... und womöglich neugierige und mitleidige Nachtschwärmer auf sich zu ziehen. In seinem Körper machte sich Müdigkeit breit. Müde vom Tag, vom Sport, doch vor allem müde von den Ereignissen der vergangenen Stunden. Vielleicht auch müde von seinem Leben nachdem ihm Gabi den Laufpass gegeben hatte.

Ein Wunsch bohrte vehement in Martins Gedanken: “Nur ins Auto. Schnell! Auto abschließen.“

Sein Auto stand an der S-Bahn-Station „Rübenkamp“. Der Weg dorthin kam ihm vor wie das Kriechen eines Verdurstenden, der nach tagelangem Marsch durch die Wüste mit allerletzter Kraft eine rettende Oase zu erreichen versucht.

 

 

 

 

 

 

Der schönste Tag in seinem Leben





Im Winter 1986/87 besuchten Michi und Stefan ihre alten Buxtehuder Freunde in deren neuer Wohnung in Hamburg-Eppendorf. Die Wohnung befand sich im 3. Stock eines Altbaus und war nur insofern erwähnenswert, als dass an der Decke im Flur vier riesige Styroporplatten hingen, in die Thomas und Jürgen, die Buxtehuder, eine Weihnachtsbaumbeleuchtung gesteckt hatten, so dass die Decke funkelte wie ein Sternenhimmel. Michi und Stefan verliebten sich sofort in diese atmosphärische Dekoration.

In unserer Schilderung der Ereignisse sollten wir an dem Punkt ansetzen, wo die beiden – höllisch zugekifft – bei Thomas im Zimmer saßen. Es war zweifelsohne beinahe das mörderischste Kraut, das sie jemals geraucht hatten. Es hatte Michi auf der Stelle umgehauen. Ging ganz schnell ins Gehirn. Normalerweise war es so, dass Michi bei Dope gut drauf war und lachte und so weiter, doch immer noch eine recht gute Kontrolle hatte … außer, wenn das eben so ein Mörderzeug war.

Das war schon heißer Stoff. Und was Stefan auch gewundert hatte, war, dass Thomas sofort einen angebaut hatte. Das hätte Stefan nicht erwartet. Stefan hatte sein eigenes Dope verloren, lag jetzt wahrscheinlich irgendwo in der U-Bahn …

Dann plauderten Stefan und Thomas eine halbe Stunde lang über Kameras und solche Sachen, und Michi fand es extrem unerfreulich, weil er keine Ahnung davon hatte. Er drängte immer wieder, auch weil ihn Thomas nicht interessierte. Er sagte zweimal: „Lass' uns los“, doch die laberten immer noch weiter.

Sie mussten Thomas auch erst einmal davon überzeugen, dass er die Styroporplatten herausgeben sollte, weil Thomas es nämlich noch gar nicht wusste. Das hatte Jürgen ihnen erst kurz vorher angeboten. Michi erzählte Thomas, dass sie die Teile bei ihnen in den Flur hängen wollten … und machte dabei leider den Fehler zu erwähnen, dass sie das Ganze dann schwarz streichen wollten. Da hatte Stefan schon Angst, dass Thomas auf die Idee kommen würde, die Platten zu behalten und sie selbst schwarz zu streichen. Das war knapp! Aber sie waren ja bekannt dafür, dass sie gern ein Risiko eingingen …

Die letzte Bahn fuhr um 18 nach 12. Sie wollten um 12 los. Stefan war voll in der Unterhaltung drin. Er genoss es. Früher hatte er oft mit Thomas ganze Abende und Nächte durchgequasselt – nur über Kameras, Fotos und Filme, total zugedröhnt. Es hätte noch mindestens eine Stunde so weitergehen können. Stefan hatte auch das Gefühl, dass Michi geneigt zuhören würde. Michi drängte, doch Stefan war zu breit, um es zu bemerken. Bis er selbst zufällig auf die Uhr sah.

Endlich waren sie im Flur, aber auch da dauerte es Michi viel zu lange, weil Stefan seinen Mantel anzog. Schließlich schafften sie die massiven, schweren Teile in das Treppenhaus. Und dann ging es los. 2 Meter x 1,50 die zwei größeren und 2,40 x 1 Meter zwei etwas kleinere Platten. Sie einigten sich darauf, dass jeder eine kleine und eine große Platte nehmen sollte. Leider hatte Michi noch ein Vierspurgerät und eine Plastiktüte mit Kopfhörern dabei. Stefan hatte alles relativ schnell im Griff und war sofort auf dem Weg nach unten. Er wunderte sich, weshalb Michi nicht nachkam. Dann sah er ein irres Bild: Michi hatte versucht, eine Platte unter den einen, und eine unter den anderen Arm zu klemmen. Das ging natürlich überhaupt nicht!

Schließlich beschloss Michi, das größere Teil dazulassen. Doch selbst mit der kleineren Platte, der Plastiktüte und dem Vierspurgerät hatte er noch Schwierigkeiten. Deshalb kam Stefan ihm entgegen. Der hatte eine genial einfache Möglichkeit entdeckt, die Platten das Treppenhaus hinunter zu bekommen. Zuerst wollte er sie einfach durch den freien Raum zwischen den Treppenläufen hinabwerfen, aber dies erschien ihm um Mitternacht doch etwas zu laut. Darum probierte er es, die Platten in der Mitte fest zu halten, und gelangte ohne Probleme in das Erdgeschoss. Er wunderte sich, wo Michi blieb, und sah, dass dieser noch ganz oben stand.

Das war der Zeitpunkt, von dem an Michi vollkommen wehrlos war. Vorher war er es gewesen, der die Initiative hatte, auf die Uhr sah und Stefan zum Aufbruch drängte. Jetzt registrierte er nur noch, dass Stefan sagte, sie hätten keine Zeit mehr. Er stellte sich völlig blöde an, konnte seine Bewegungen nicht mehr koordinieren. Er war wie im Rausch. Er war im Rausch! Stefan schaffte die Platten alleine nach draußen. Michi gelang es gerade noch, ihm die Tür aufzuhalten …


Dann ging es um den Weitertransport. Stefan hatte sehr schnell eine Idee, doch Michi verstand nicht, was er meinte. Sie brauchten ziemlich lange dafür, sich darüber klarzuwerden. Bis sie dann richtig auf dem Weg waren, verging weitere wertvolle Zeit. Sie brachten die Styroporplatten in die Horizontale, Stefan nahm sie hinter sich und ging vorne, Michi hinten. Michi hielt dabei noch die Plastiktüte, das Vierspurgerät und eine kleine Zusatzstyroporplatte in einer Hand. Das war ihm viel zu schwer. Stefan schlug ihm vor, doch alles auf die Mitte der Styroporplatten zu legen, und so kamen sie letztendlich in Gang.

Stefan hatte den Eindruck, Michi würde ihn von hinten anschieben. Er konnte nicht glauben, dass Michi so schnell gehen könne. Und dann fragte ihn Michi auch noch, ob sie etwas schneller gehen könnten, doch das ging nicht. Da es für Michi schon sehr schwer war, hatte er Angst, dass es für Stefan noch schwerer sein würde, zumal die Plastiktüte, das Vierspurgerät und die kleineren Styroporplatten mehr in dessen Hälfte lagen. Er sah, dass Stefan das alles teilweise sogar nur mit einer Hand trug. Unglaublich!

Michi konnte nicht auf seine Uhr sehen. Die erste Uhr, die er an der Straße sah, war 8 Minuten nach 12. Michi wusste aber, dass es später sein musste. Sie hatten den größeren Teil der Restzeit im Treppenhaus liegen gelassen. Er schätzte, dass ihnen noch 5 Minuten blieben. Sie fingen an zu rennen ...

So liefen zwei Männer mit einer riesigen Styroporplatte, auf der eine Plastiktüte, ein Vierspurgerät und drei kleinere Styroporplatten lagen, um Mitternacht durch Hamburg-Eppendorf. Sie rannten die Hälfte der Strecke bis zum U-Bahnhof Kellinghusenstraße. Stefan dachte dabei ständig, dass die Styroporplatte durchbrechen würde. Das wäre das Ende gewesen. Sie hätten alles umdrehen und neu ordnen müssen, und das wären genau die 10 Sekunden gewesen, die ihnen gefehlt hätten.

Michi war schon so kaputt, dass er nicht mehr darauf achtete, dass die Straßen, die sie überquerten, auch von Autos befahren wurden. Sie liefen über eine grüne Ampel. Sie liefen über eine rote Ampel und ein Wagen brauste sehr schnell heran. Glücklicherweise sah Stefan (der ja vorne war) das Auto und stoppte.

Trotz allem konnte Michi noch Scherze darüber machen, was für ein Bild die beiden jetzt wohl abgeben würden. Sie kamen an einem italienischen Restaurant vorbei. Die Gäste saßen am Fenster und aßen. Sie passierten einen Friedhof und eine Kirche. Die Turmuhr schlug einmal. Viertel nach! Stefan sah hinauf zur Uhr. Sie hatten noch 3 Minuten. Und es war noch ein Kilometer zu laufen ...

Irgendwann wehte die kleine Zusatzstyroporplatte vom Stapel herunter auf die Straße, doch sie hatten keine Sekunde, um das Teil aufzuheben. Michi bemerkte nur lakonisch: „Vergiss es!“ Dann schrie Stefan (der ja weiter vorne war, und außerdem weitsichtig), dass er das U-Bahn-Schild sehen würde. Michi sah immerhin das Flimmern der Lichter auf dem Bahnsteig.

Stefan sah den Zug! Der Zug fuhr los. Stefan gab auf: „Das war's.“ Sie stoppten etwa 200 Meter vor dem Bahnhof. Sie wollten schon alles ablegen und aufgeben, als Michi plötzlich klar wurde, dass der Zug in die falsche Richtung fuhr. Im gleichen Moment kamen die beiden Züge in Richtung Zentrum, die Züge also, die Stefan und Michi brauchten.

Es begann der Endspurt. Stefan war so am Ende, dass er fast zusammengebrochen wäre. Er spürte seine Beine nicht mehr. Stefan begann zu schreien: „Hallo!“, „Hallo!“, „Warten Sie!“.

Vielleicht war das Ihre Rettung. Jemand muss die Rufe, die von da unten von der Straße heraufschallten, erhört haben. Vielleicht sah aber auch ein Zugfahrer, als die Züge über die Brücke einfuhren, die beiden Verrückten mit der Styroporplatte und dachte sich, dass die noch mit dieser letzten U-Bahn mitwollten. Vielleicht hatte er Mitleid, weil er bereits einen Teil ihres Anlaufweges mitverfolgt hatte. Der Schaffner auf dem Bahnsteig hätte womöglich nicht gewartet.

Michi wäre auf den Treppen hoch zum Bahnsteig fast gestolpert … doch dann waren sie oben. Die U3 war schon weg. Stefan wusste nicht, dass sie auch mit der U1 fahren konnten. Er wusste überhaupt nichts mehr. Mit total verschwitztem Gesicht, Schlafzimmerblick und der letzten Luft wisperte Michi nur noch: „Steig ein!“.

Stefan errechnete hinterher, dass, wenn sie nur zwanzig Sekunden später losgegangen wären, sie es nicht mehr geschafft hätten. Dann hätte selbst ein Taxi nicht geholfen, weil man die Teile dort nicht hinein bekommen hätte. Michi war ohnehin fest davon überzeugt gewesen, dass sie es nicht schaffen würden, und hatte sich ständig gefragt, wie Stefan darauf reagieren würde. Er lief nur automatisch mit, um Stefan nicht zu verärgern. Für ihn wäre die Enttäuschung nicht so schlimm gewesen, weil er darauf eingestellt war, doch Stefan kämpfte wie ein Irrer, und Michi wusste nicht, was passieren würde, wenn sie es nicht schafften.

Stefan wusste die ganze Zeit, dass sie es schaffen würden. Deshalb kämpfte er. Er wusste, dass es höllisch knapp werden würde, doch er wusste, dass sie es schaffen würden.

Endlich im Zug. Alles vergessen. Sie stellten die Styroporplatte in die Senkrechte. Wie zu erwarten rutschten die Plastiktüte, das Vierspurgerät und die kleineren Styroporplatten laut krachend auf den Fußboden. Ein Kopfhörer fiel aus der Plastiktüte und kam erst 5 Zentimeter vor der Kante zwischen dem Bahnsteig und dem Abgrund zum Liegen. Glücklicherweise waren die Leute, die aus dem Zug ausstiegen, so nett, die Gegenstände vom Boden aufzulesen.

Sie waren drin. Stefan schwitzte wie ein Schwein. Seine erste Idee war sich hinzulegen. Sie setzten sich auf den Fußboden (Michi wunderte sich später darüber, dass er dafür noch die Kraft besessen hatte). Wie schön wäre es jetzt gewesen, Strom zu haben und die Weihnachtskerzen in der U-Bahn leuchten zu sehen. Besonders, da Stefan feststellte, dass er auf dem Weg seinen Schal verloren hatte. Doch den fand er sowieso doof. Hatte ihn schon wochenlang genervt.

Am Jungfernstieg verließen sie die U-Bahn. Natürlich dauerte es viel zu lange, bis sie alles hinaus bugsiert hatten. Fast wäre noch die große Styroporplatte abgebrochen (wie sie überhaupt auf dem ganzen Transportweg per Bahn eine Styroporspur hinterließen, da sie die Teile immer zügig und rabiat in die und aus der Bahn schoben).

Sie nahmen die letzte S-Bahn nach St. Pauli. Andere Fahrgäste eilten herbei und halfen ihnen beim Ein- und Aussteigen. Als sich Michi bei den Leuten bedankte, fiel ihm auf, dass er dies zuvor nicht getan hatte. Ein unangenehmes Gefühl.

Als sie die S-Bahn-Station Reeperbahn verließen, sah Michi schon vom Bahnsteig aus die Punks und Penner, die ihn seit Monaten nervten. Jedes Mal, wenn er an Ihnen vorbeikam, und das war normalerweise mindestens zweimal täglich, schnorrten sie ihn um Geld oder Zigaretten an. Michi hatte keine Lust, die Treppe hochzugehen und die ewig gleichen Floskeln zu hören.

Doch es kam anders. Die Punker sprachen Michi und Stefan an. Zum ersten Mal hieß es aber nicht: „Hast Du mal 'nen Groschen?“, sondern: „Was habt Ihr'n dabei?“ Ein Punk spielte Mundharmonika, einen Blues ...

Die Wohnung. Endlich am Ziel. Und sie hatten den ganzen Tag nichts gegessen. Sie sanken auf den Boden. Sie hatten gefrühstückt, normal, aber nicht übermäßig. Danach hatten sie Vierspuraufnahmen in Buxtehude gemacht. Großer Stress. Stefan hatte dort ein Ei gegessen, Michi nichts. Danach wieder Stress. Schon bevor sie bei Thomas waren, hatte Stefan gedacht: „Wenn ich nicht gleich etwas zu essen bekomme, breche ich zusammen.“

Stefan hatte die Idee, die zwei Gulaschdosen von Aldi aufzumachen, die sie seit einigen Wochen im Schrank hatten. Er tat noch eine halbe Dose Mais, einen Schuss Schaschlikgewürzketchup von Aldi, einen kleinen Schuss French Dressing, einen Hauch Wasser (aber nicht zu viel, sonst verwässert die Soße), etwas Milch (am besten Dosenmilch, weil die am meisten Fettgehalt hat), Paprika, Curry, Oregano, Pfeffer und Salz dazu.

Stefan kochte das Essen und kostete vor. Zu diesem Zeitpunkt fiel Michi bereits von einer Euphorie in die andere und schmiss mit Superlativen um sich. Und zwar nicht nur über Stefans Kochkünste, sondern über den ganzen Tag. Es war der schönste Tag in seinem Leben.










1979





Einer der aufregendsten, (ein-)prägendsten, unvergesslichsten, mit vielen positiven Emotionen behafteten Abschnitte in meinem Leben begann einige Monate nach meinem 15. Geburtstag und dauerte ungefähr zwei Jahre und drei Monate ...

Bis dahin war ich ein normaler Junge vom Land gewesen. Ich lebte in einem Tausend-Seelen-Dorf, welches wiederum "eingemeindet" war von einer Kleinstadt mit 30.000 Einwohnern. Ich besuchte die 9. Klasse eines Gymnasiums und war beeinflusst von einigen älteren Mitschülern und ein paar ziemlich intelligenten Schulkameraden.

Ich war schon viele Jahre Musikbesessener gewesen. Angefangen mit der Single-Sammlung meiner Eltern, die ich als 6-Jähriger rauf- und runternudelte - und leider auch zerkratzte, über meinen Einstieg als allsamstäglicher Hörer der "Internationalen Hitparade - direkt vom Plattenteller" mit Wolf-Dieter Stubel des NDR, mit 9 Jahren, bis zu meinen ersten LPs von Suzi Quatro und Sweet.

Sweet wurde dann als meine Lieblingsband von den Beatles abgelöst, ich bastelte mir sogar mein eigenes "Beatles-Buch", indem ich die Seiten eines "Schneider"-Kinderbuches mit Blankopapier überklebte, und sie anschließend vollschrieb.

Zu dieser Zeit nannte ich schon eine stattliche Single-Sammlung mein Eigen (die ich dann leider mit 15 meinem besten Freund gab - der so respektlos war, die Schallplatten gleich anschließend auf dem Flohmarkt zu verscheuern).

So ging das weiter bis 1977, ich war 13. Meine Musik war Charts-Musik, die "Internationale Hitparade" und die britische "Top Twenty" mit Tommy Vance auf BFBS meine Lieblings-Sendungen.

Dann kamen - in der 8. Schulklasse - drei ein Jahr ältere Jungs auf meine Schule und in unsere Klasse - sitzen geblieben. Sie wurden meine Freunde ... und sie änderten meinen Musikgeschmack.

Ich hörte fortan Rock-Musik - angefangen mit spätsechziger Hippie-Musik, Iron Butterfly, Steppenwolf, über Pink Floyd, Deep Purple, Genesis, Santana und Led Zeppelin bis hin zu Bob Seger, Camel, Al Stewart und Dire Straits. Ich besaß "Rock dreams" von Guy Peellaert und das "Rock-Lexikon" von Graves und Schmidt/Joos. Ich sog beide Bücher in mich auf, kannte die Namen sämtlicher Bandmitglieder der einschlägigen Bands und wurde schnell "das wandelnde Rock-Lexikon" genannt.

Ich begann mich politisch zu orientieren - nach links, wieder beeinflusst von einigen Mitschülern und Schulkameraden. Ich sympathisierte mit der Anti-Atomkraft-Bewegung (ich habe noch heute den "Atomkraft? Nein Danke"-Kalender 1979), las "Konkret" und den "Roten Rebellen", das Jugendmagazin der KPD/ML - das war meine ziemlich unreflektierte und undifferenzierte Grundhaltung als 15-Jähriger.

Im "Roten Rebellen" las ich von der Tom Robinson Band. In den Hitparaden-Sendungen hörte ich frühe Singles von The Jam oder den Stranglers.

Meine Print-Informationsquellen zu aktueller Musik hätten damals unterschiedlicher nicht sein können: der "Rote Rebell", die "BRAVO", der "GOVI LP-Express" eines großen Schallplatten-Versandhändlers und schließlich der "Musikexpress". In der "BRAVO" hatte ich schon ausgiebig Bilder und Poster der Sex Pistols gesehen. Im "GOVI LP-Express" war "Rocket to Russia" von den Ramones Platte des Monats gewesen ...

Das lief zunächst noch nebenher: In der ersten Jahreshälfte 1979 hörte ich Dire Straits, Bob Seger, George Thorogood und Wishbone Ash, "Breakfast in America" von Supertramp war eine meiner Lieblingsplatten und Camel meine zeitweilige Lieblingsband.

Doch gleichzeitig begeisterte ich mich für die Stranglers und kaufte mir deren erste drei LPs. Ich besaß die erste Platte von DEVO, die erste Nina Hagen, "This year's model" von Elvis Costello, "Parallel lines" von Blondie, "Teuflisch" von Kiev Stingl, "New boots & panties" von Ian Dury. Irgendwann hatte ich auch "Rocket to Russia" und die erste Ramones-LP. Und "Never mind the bollocks" der Sex Pistols.

1978 hatte ich im Schulbus Lothar kennengelernt. Ich glaube, dass er mich ansprach, weil ich damals regelmäßig Tüten mit LPs dabei hatte, die ich in der Schule verlieh oder entlieh.

Wir begannen uns über Musik auszutauschen. Dann liehen wir uns gegenseitig Platten aus und wurden beste Freunde.

Zunächst arbeitete ich mich noch durch die Hippie-Musik-Sammlung des älteren Bruders von Lothar. Da waren ganz üble Machwerke dabei: Ash Ra Tempel, Amon Düül, die Platte "Lie" von Charles Manson, das Mahavishnu Orchestra ...

Doch Lothar und ich begannen uns gleichzeitig für Punk und New Wave zu interessieren. Von Lothar lieh ich mir "The Scream" von Siouxsie & The Banshees und "At the Chelsea nightclub" von den Members.

Es war schließlich das Buch "Rock Session 2", das ich Mitte 1979 in Teilen las, und insbesondere die darin enthaltene Geschichte "The Punk. 'n Roman" von Gideon Sams, die mich endgültig zum Punk werden ließen. Vielleicht konnte ich Parallelen finden zwischen des Helden Beziehung zu seinen Eltern und meinem eigenen Verhältnis zu den meinen. Ich fühlte mich von meinen Eltern nicht verstanden, eine alte Geschichte, die auf ihr Verhalten angesichts meiner ersten Verliebtheit zurückging. Mein Vater war Schichtgänger und entweder nicht da, tagsüber schlafend oder häufig dünnhäutig ob der Belastung des Schichtdienstes. Er spielte zwar mit mir Fußball und Schach, und ihm gefielen einige Rock-Sachen, die ich 1978 ins Haus brachte, Michael Rother, Pink Floyd, Electric Light Orchestra ... Doch häufig gab es heftige Streitereien zwischen meinen Eltern, in die ich mich dann auch einmischte - und es gab auch Schläge. Meine Mutter war immer verständnisvoll ohne mich zu verstehen, bisweilen larmoyant, zu negativ.

Vielleicht berührte mich auch einfach nur das tragische Ende der Geschichte, in dem Adolph und Thelma erstochen werden. "The Punk. 'n Roman" erinnerte mich auch an die Geschichten der von James Dean gespielten Helden in "Jenseits von Eden" und "... denn sie wissen nicht was sie tun" - beide Filme hatten mich zutiefst beeindruckt.

Ich fühlte mich nun anders, hörte andere Musik, zog mich anders an, lebte anders: intensiver!

Das Wichtigste an Punk war für mich selbstverständlich die Musik. Die immer schneller auf mich zukommenden neuen Songs, neuen Sounds, neuartigen Texte, neuen Stile bewirkten ganz klar eine Stimmung von Aufbruch bei mir, ich tanzte in meinem Zimmer, ich tanzte auf Partys, ich gab mich den schnellen Rhythmen hin, ich lebte auf, ich hatte plötzlich überschäumende Energie. Das war alles komplett anders als die Rock-Musik, die ich vorher gehört hatte. Die Musik war alt. Ich hörte sie zwar gerne - aber das war auch schon alles. Rock-Musik machte nichts, absolut nichts mit mir.

Ich war nicht arm, ich wuchs behütet in einer Mittelklassen-Familie auf. Das Leben in der Kleinstadt war langweilig. Ich hatte die üblichen Teenager-Komplexe, wusste nicht, wie ich Mädchen gegenüber auftreten sollte, war neidisch auf ältere Jungs, auf die meine Mitschülerinnen flogen. In meinem - sehr überschaubaren - Freundeskreis war ich der Kleinste und der Jüngste. Es war dann erst mal eine große Mutprobe, in Buxtehude mit hochgeföhnten, gesprayten und gefärbten kurzen Haaren, zerrissenen Jeans, einer dreckigen, kaputten Lederjacke und Sicherheitsnadeln rumzulaufen. Ich war dort damals der einzige Punk. Es baute mich auf, wenn ich die Mutprobe jeden Tag bestand, ich fühlte mich "besonders".

Der dritte Aspekt war eine Art Auflehnung. Auflehnung gegen die rechts-konservative, diktatorische Schulleitung und deren Bevormundung. Auflehnung gegen meine Eltern ...

Musikalisch differenzierte ich nicht groß zwischen Punk und New Wave, beides war für mich gleichsam energetisch, frisch, spannend, mitreißend. Ich erkannte wie öde die Rock-Musik war, die ich in den Vorjahren gehört hatte - und rückte ganz entschieden und vehement von ihr ab. Meine Begeisterung beim Entdecken neuer Musik kannte hingegen keine Grenzen ... und der Horizont wurde größer:

Angefangen mit Pop-New Wave wie den Boomtown Rats und Police, über "Play loud" von den B-52's (zu der wir eine wilde Party bei Lothar durchtanzten) und "Singles going steady" von den Buzzcocks bis hin zu "richtigem" Punk wie den Ramones, "New rose" von den Damned, "Blank generation" von Richard Hell, "Babylon's burning" von den Ruts und vor allem "I'm an upstart" von den Angelic Upstarts.

... und dann wurde auch eine meiner Stammsendungen im Radio interessanter: "Musik für junge Leute" im NDR. Dort wurde gelegentlich Alfred Hilsberg als Gast eingeladen. Bei ihm hörte ich nicht nur zum ersten Mal Songs aus "The scream" von Siouxsie & The Banshees, sondern auch ganz andere "New Wave": "Herrenreiter" von Mittagspause oder "Es brennt" von Hans-a-plast.

Ich erinnere mich, dass ich im Herbst 1979 vor allem einige Compilations immer wieder abspielte, und diese einen immensen Eindruck auf mich machten: "New Wave", knallrotes Cover mit dem Foto eines Punks, der eine Dose Bier in der Hand hält, das er provozierend in Richtung Kamera spuckt oder schleudert. "That summer!", "Sharp" und schließlich "New Wave - Wer hat Angst vor den 80er Jahren", ein Doppel-Album mit einem breiten Spektrum an New Wave, Punk, Pop und den ersten elektronischen New Wave-Bands.

Um ehrlich zu sein, fällt es mir schwer, heute - 37 Jahre später, 52-jährig - meine Gefühle beim Hören dieser Compilations zu rekapitulieren. Die Musik machte auf mich einen neuartigen, überwältigenden Eindruck, ich hatte damals noch nie etwas Derartiges gehört. Das hatte deshalb auch etwas Geheimnisvolles an sich ... Die Musik kam mir teilweise unfassbar schnell vor, die aggressive Wut, die sich durch die Geschichte von Gideon Sams zieht, spürte ich in einigen Songs ganz deutlich - "I'm stranded", "Blank generation" ...

Lothar versorgte mich mit den Slits, Penetration, Tubeway Army, XTC und Ultravox. Unsere Bandbreite sollte dann im Folgejahr, 1980, noch bedeutend größer werden.

Meine wichtigste Quelle zum Kennenlernen neuer Musik war Ende 1979 aber noch die "Top Twenty"-Sendung auf BFBS. Das mag überraschen, wenn man es 2016 liest, und Tausende unerträgliche Chart-Hits der vergangenen dreißig Jahre in schmerzvoller Erinnerung hat. Doch damals waren viele Songs in den Charts nicht nur cool, sondern wirklich interessant, eingängig, erregend ...

Im Grunde genommen war ich damit - nach zweijähriger Unterbrechung - ein wenig zurückgekehrt zu meiner Vor-Rock-Zeit bis 1977 - ich hing am Samstag am Radio und wartete gespannt auf die "Top Twenty" ... nur dass meine Hits nicht mehr "Dancing queen" und "Yes Sir I can boogie" hießen, sondern "London calling" und "Making plans for Nigel" ...










1980





Ich danke dem Zufall, mich im vergangenen Jahr auf eine mir bis dahin unbekannte Perle gestoßen zu haben: Den Song "Don't forget me" von Captain & Tennille, erschienen auf deren Album von 1980, "Keeping our love warm". Die herzzerreißende Bitte, ja das Flehen einer Ex-Gattin an ihren Ex-Mann, sie nicht zu vergessen - in der gemeinsamen Ehe hätte es nicht nur stürmisches Wetter gegeben, sondern auch Sonne ... 

Als "Don't forget me" 1980 erschien, gab es gute Gründe, den Song nicht kennenzulernen. Das Duo Captain & Tennille war in Europa nahezu unbekannt, selbst in den USA war die frühere "Popularität" am Schwinden, "Don't forget me" war irgendein Track auf dem letzten Album des Duos, danach ging die Plattenfirma Casablanca bankrott und Captain & Tennille getrennter Wege. 

Und ich nahm solche Musik 1980 einfach noch nicht oder nicht mehr wahr. 1980! Wow, welch ein Jahr, eines meiner besten! Ich war 16 und Punk (oder die Landei-Variante eines Punks, denn ich lebte in einer 30000-Seelen-Kleinstadt, 50 km entfernt von der Metropole Hamburg). Eine meiner Lieblings-LPs von 1980 war Stiff Little Fingers, "Nobody's heroes". Ich hörte die LP rauf und runter. Ich besaß damals auch schon Trommelstöcke, Geschenke meines Onkels aus der DDR. Als ich die Platte dann meinen besten Freunden vorspielte, ging ich so ab, dass ich mit den Trommelstöcken den Rhythmus auf meinen Oberschenkeln mitklopfte und mir damit rote Haut und blaue Flecken holte (im folgenden Jahr sollte ich dann aus dem Erlös der Versicherung für mein gestohlenes Mofa ein richtiges Schlagzeug kaufen und meine erste Band gründen ...). 

1980 war ein Jahr vieler erster Male, und die waren so aufregend, wie sie es nur in der Teenager-Zeit sein können. 
Irgendwann an einem kühlen Abend im Februar entdeckte ich per Zufall beim Drehen am Radio-Senderknopf "John Peel's Music" auf BFBS, für die nächsten 2 Jahre meine wichtigste Quelle neuer Musik. John Peel war ein britischer Radio-DJ, und in jener Zeit der wichtigste Entdecker, Förderer und Distributor von Punk, New Wave, Ska, Reggae ... Ich war so verrückt nach dieser Sendung, dass ich sogar des Öfteren samstagnachts um 3 Uhr aufstand, um "John Peel" aufzunehmen. Legendär ist auch eine Situation aus dem Jahr 1981, in der ich das Mädchen, in das ich verliebt war und das ich für mich gewinnen wollte, dadurch brüskierte, dass ich unser Date kurzfristig verließ, um nach Hause zu eilen und "John Peel" zu hören ... 

1980 hatte ich bereits eine langjährige Erfahrung als Pop- und Rock-Hörer hinter mir. Doch es war etwas vollkommen anderes, die neue LP von Michael Rother zugeschickt zu bekommen und zum ersten Mal zu hören, oder aber beispielsweise Songs der neuen Undertones-LP zu erfahren, zu erleben, zu durchfühlen. Punk- und New Wave-Musik war viel näher dran an meinem Leben als Teenager, an meinen Emotionen, an meinen Gedanken über das Dasein und die Leute in der Kleinstadt. Dementsprechend vermochte diese Musik mich zu bewegen. 

Radio war damals enorm wichtig. Außer John Peel hörte ich "Street heat" mit Stuart Henry auf Radio Luxemburg/Langwelle (LW), "Top Twenty" mit Tommy Vance auf BFBS (heute kaum zu glauben, aber damals waren die britischen Charts voll mit grandiosen New Wave- und Ska-Songs) und teilweise "Musik für junge Leute" und "Der Club" auf NDR, mit Klaus Wellershaus und Gastmoderatoren wie Alfred Hilsberg ... 

Ich besuchte mein erstes "richtiges" Konzert (vorher hatte ich nur einige Schülerbands in meiner Kleinstadt erlebt). Mein erstes "richtiges" Konzert, in der großen Stadt Hamburg, war dann ausgerechnet das legendäre und skandalumwobene Konzert von The Clash in der Hamburger Markthalle. 
Dass an diesem Abend Ärger in der Luft lag, war mir schon klar, als ich zur Markthalle kam und sah, dass sich die Punks einfach auf die - stark befahrene - Straße vor der Markthalle gesetzt hatten, und diese so lange blockierten, bis die Polizei erschien. 
Und The Clash betraten in einem stark an die Rock'n'Roll-50er Jahre erinnernden Einheitsdress die Bühne: glänzende Hemden in Uni-Farben, schwarze Stoffhosen. Das war nicht der akzeptierte Punk-Look mit Lederjacke, zerschlissener Jeans und Turnschuhen. Nein, das war ein Schritt weg von Punk, ein Zitat einer vergangenen Epoche, eine Provokation all jener, die nicht über den eigenen Tellerrand zu schauen vermochten. 

Vielleicht hatte ich damals auch schon gehört, dass The Clash bei den Punks als "Verräter" galten, denn sie waren bei einer großen Plattenfirma unter Vertrag und hatten sich mit ihrem damals aktuellem Album "London calling" schon weit von dem ursprünglichen, monotonen Hauruck-Punk im Zweivierteltakt entfernt. 
Ganz deutlich wurde mir alles, als The Clash unter Pfiffen auf die Bühne kamen und das Publikum fortan immer wieder Beschimpfungen von sich ließ. Das war kein Konzert, das war Krieg. Krieg zwischen Band und Publikum. 
Die Band schaffte nur drei Songs, dann wurde der Sänger und Gitarrist Joe Strummer von einigen Punks an seinem Gitarrenkabel von der Bühne gezogen. Beim Fall ins Publikum verletzte Strummer dann wohl unabsichtlich einen Punk mit dem Hals seiner Gitarre. Daraufhin wurde das Konzert unterbrochen, der Punk wurde ins Krankenhaus gebracht, und die Anti-Stimmung schien nun nur noch extremer geworden zu sein. Erst nach einer längeren Unterbrechung beendete die Band schließlich den Auftritt (und kehrte einige Monate später sogar noch einmal nach Hamburg zurück, diesmal ohne "Krieg").

Apropos "Punk-Look": Ich trug 1980 eine alte, dünne Lederjacke, die ich in der Rumpel-Werkzeug-Kammer meines verstorbenen Opas gefunden hatte. Diese Lederjacke hatte ich, mithilfe meiner Mutter, präpariert: Beide Ärmel waren vertikal aufgeschnitten und mit jeweils einem Reißverschluss versehen. Irgendwo an der Jacke hing eine verrostete Fahrradkette. An anderen Stellen befanden sich einige der damals unvermeidlichen Aufnäher und Badges. Die eingenähten Reißverschlüsse waren sehr praktisch und halfen mir auch beim Clash-Konzert: Ich konnte sie bequem öffnen, die Ärmel meiner Lederjacke hochkrempeln und dadurch weniger schwitzen. Badges, Poster, Aufnäher, Schlipse, T-Shirts bestellte ich häufig beim Versandhandel "Groovers Paradise", in der Provinz nicht zu bekommende 7"es bei "Flash Records". Ich war dann bei Eingang der jeweiligen Sendung aufgeregt wie ein kleines Kind am Weihnachtsabend. 

Einige Wochen nach dem Clash-Konzert brachte die Hamburger Musikzeitschrift "Sounds" einen Artikel über das Konzert, und ich kaufte mir das Heft. Wieder ein Zufall: Vorher hatte ich nur den "Musikexpress" gelesen. Da wurde zwar auch über Punk berichtet, jedoch fast ausschließlich über die bereits bekannteren britischen und amerikanischen Bands. Zudem dominierten im "Musikexpress" überdeutlich genau jene "Boring old farts", gegen die die Punks rebellierten - der überwiegende Teil der im "Musikexpress" besprochenen Musiker hatte seine Wurzeln tief im Rock der 70er Jahre. 
Im "Sounds" war das anders, dort hatte Punk und New Wave Priorität. Und es wurde auch über unbekanntere Bands berichtet, deutsche wie britische wie amerikanische. 
"Sounds" wurde ebenso beherrschend für meine Entwicklung der nächsten 2 bis 3 Jahre wie John Peel.

Captain & Tennille traten im "Sounds" nicht in Erscheinung ...

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