50 CDs 1992-1999 (German language)

 (Veröffentlicht in der Zeitschrift "SZENE Hamburg")


 1992




The Chills / Soft bomb

Als 1986 Bands aus Neuseeland das "neue Ding" wurden, tönte Martin Phillips, Kopf der Chills, Popmusik aus Neuseland könne für die Musikwelt so wichtig werden, wie der Merseybeat für Englands Musik der 60er Jahre. Fans in Europa waren fasziniert vom verhallten Chills-Sound, der aber schon 3 Jahre später einer Transparenz geopfert wurde, die auch das amerikanische Mainstream-Publikum ansprechen sollte.

Auf "Soft Bomb", dem ersten in den USA aufgenommenen Album, versucht Phillips, verlorengegangenes Profil zurückzugewinnen und in die Liga der von ihm verehrten Songwriter (Newman, Barrett...) aufzusteigen. In mehreren Stücken beschäftigt er sich mit seiner Identität als Musiker, zerrissen von Plattenbossen, die "Dich nicht länger füttern, als sie müssen", verständnislosen Fans und Liebe, die nur noch in der Erinnerung existiert.

Das 17-Titel-Werk, weitaus ruhiger als die Vorgänger, pendelt etwas unentschlossen zwischen Eigenwilligkeit und kommerziellem Bekenntnis. Neben ansprechenden Pop-Hits und einigem Belanglosen überzeugen 3 Songs: das Titelstück verweigert sich charmant den aktuellen Strömungen aus Amerika. "Entertainer" erinnert durch bizarre Geräusche und dissonante Geigen über einem mutierten "What'd I say"-Riff im 3/4-Takt an den Scott Walker von "Nite Flights" und "Climate Of Hunter". In "Water Wolves" trägt ein delikates Streicherarrangement von Van Dyke Parks den Gesang.
R.E.M. / Automatic for the people

Eine anfangs verhaltene Akkustikgitarre gibt mit beginnender rhythmischer Bewegung das Zeichen für die Elegie einer Melodica. Den Hörer durchschüttert Ergriffenheit. Über einem Teppich aus Orgel und Rhythmusinstrumenten singt Michael Stipe dann mit brüchiger Stimme vom On-The-Road-Mythos. "Find The River", letzter Song des 8. Albums von R.E.M., gehört fraglos zu den Überballaden dieses Jahres.

Die 4 Musiker zelebrieren die ungestüme Kraft von Slide-Gitarren, zirpenden Mandolinen und Woodblocks. Noch keine R.E.M.-Platte war so langsam und gedämpft, keine bekannte sich so offen zum Bombast-Rock der 70er Jahre. Als kämen Pink Floyd zum Elton John-
Gedächtniskonzert zusammen, paaren sich flächige Orgeltremoli, Streicher und Chöre mit einem pompösen Raumklang.

Das führt manchmal zu Resultaten wie der ausnehmend schmalzigen Simply Red-Schnulze "Everybody Hurts", wird aber meistens sehr intelligent aufgebrochen. So klinkt sich in der Single "Drive" das Schlagzeug immer wieder aus und verhindert eine radiotaugliche Durchhörbarkeit. In mehreren Stücken durchkreuzen lange, verzerrte Gitarrenresonanzen nach Art von Talk Talk den Eindruck von schönem Kitsch.

Fabelhafte Winterplatte!

1993






The The / Dusk

Jahrelang konnte Matt Johnson nie peinlich, immer nachfühlbar den Blues haben und dazu erlesenen Soulpop komponieren. Ausgiebiger Alkoholgenuß muß den The The-Leader dann zu dem falschen Schluß geführt haben, Bluesrock sei der eigentlich angemessene Soundtrack für seine Selbstanalysen. Und so glaubt Johnson, der sehr früh moderne Sampletechnik benutz- te, mittlerweile an den Einsatz natürlicher Instrumente.

Auf "Dusk" prägen Akustikgitarre und Mundharmonika das Erscheinungsbild der Musik. Die entschlackte Instrumentierung soll die Essenz der Songs zum Vorschein bringen. Leider haben die Songs kaum Essenz. An die Stelle früherer Melodiösität tritt ein Pathos, das an Nick Cave in seinen unerträglichsten Momenten denken läßt. Die Band kann selten neue Akzente setzen. Nur dem ehemaligen Smiths-Gitarristen Johnny Marr fallen einige unkonventionelle Soli ein.

Johnsons Texte variieren seit 10 Jahren immer wieder die Geschichte seines Kampfes mit dem Dämon der Begierde, der ihn daran hindert, ein besserer Mensch zu werden. Die direkten politischen Bezüge der letzten LP's fehlen auf "Dusk". Stattdessen gibt es Lieder über Telefonsex und den Untergang des Planeten.

Der Schaffensgang von Matt Johnson ist langwierig und zäh: The The veröffentlichen ihre Werke in Dreijahresabständen, für "Dusk" benötigte man 1 Jahr Aufnahmezeit. Dafür sollte der Zuhörer originellere musikalische und inhaltliche Ideen erwarten dürfen.
Wynton Marsalis Septet / Citi movement

Für Fans ist er der "Prince of Jazz", seine Gegner schimpfen Wynton Marsalis einen Tradi- tionalisten. Während Experten noch über die Bedeutung des Trompeters streiten, schreibt der in immer kürzeren Abständen Meisterwerke.

Die Ballettmusik "Citi movement" will Großstadtatmosphären ausdrücken und den Quellen des Jazz nachspüren. Dazu reißt Marsalis in Analogie zu einigen Konzeptsuiten Duke Ellingtons ein Stilpanorama der Jazzgeschichte vom Work Song bis zur Kollektivimprovisation auf.

Doch Marsalis beruft sich auf die Tradition, um sich von ihr abzusetzen, deutet Topoi an, um sie dann zu umgehen. Das Stück "Marthaniel" bei- spielsweise kommt zunächst als Klavierblues daher, ehe ständige Modulationen es auf eine andere, moderne Ebene heben.

In der ersten Hälfte des 2-Stunden-Opus überwiegt höchstgradig kompliziertes, auskomponiertes Satzspiel, dessen barsche Tempo- und Rhythmuswechsel durch die unanfechtbare Perfektion der Musiker gemeistert werden. Die zweite Hälfte hingegen ist reich an solistischen Höhepunkten.

Marsalis' Ansatz, den Jazz aus sich heraus zu erneuern, führt ihn auf "Citi movement" erneut zu begeisternden Ideen.
DC Basehead / Not in Kansas anymore

Um Mißverständnisse aus der Welt zu schaffen: DC Basehead ist keine "irgendwie andere" HipHop-Band. Die Gruppe reichert ihren zunächst traditionell strukturierten, angejazzten Funk lediglich durch feinfühlig eingesetzte HipHop-Elemente an. So hat Baseheads Songwriter Michael Ivey die Bedeutung des Plattentellers als Instrument erkannt und ihn in seine Musik integriert.

Auf "Not in Kansas anymore" trägt Ivey ernüchtert und illusionslos Texte über sein Leben als Schwarzer in den USA vor. Vor dem Hintergrund von Gewalt, Vorurteilen und der Angst, von der Polizei erschossen zu werden, scheinen Sex ohne Liebe, Drogen und Selbstverleugnung seine verbliebenen Optionen zu sein.

Ivey, der früher malte und Filme drehte, entdeckte letztlich Musik als Katharsis. Und obwohl seine Texte Moll-Stimmungen vorbehalten bleiben und die Songs weit entfent von fröhlichem Pop sind, ist diese Musik wunderschön. Sanft und im besten Sinne groovy treiben die Stücke ins Ohr, während Ivey mit verhaltener Stimme Kindermelodien singt.

Eine in jeder Hinsicht interessante Platte, die den, der sie sich einmal erschlossen hat, lange begleiten wird.




Joe Henderson / So near, so far

1992 räumte der Saxophonist Joe Henderson mit seinem Billy Strayhorn-Tribut "Lush Life" in den Jazz-Polls ab. "So near, so far" setzt nun seine der Musik jeweils eines Jazzkomponisten gewidmete Aufnahmeserie fort. Sujet ist Miles Davis.

Die kompositorischen Schuhe von Miles sind erheblich kleiner als die Strayhorns. Nur eine Handvoll Schöpfungen des Trompeters fand bisher Eingang in das Jazz-Repertoire und die sind hier nicht vertreten. Es ging Henderson darum, zu Unrecht vergessene Stücke auszugraben. So spielt es auch keine Rolle, daß die Songs kaum anders arrangiert sind als im Original.

Henderson, dessen Spiel diesmal leicht uninspiriert wirkt, wird von 3 früheren Davis-Begleitern unterstützt. Deren Beiträge fallen sehr different aus. Während Dave Holland einen unspektakulären, aber soliden Bass spielt, gibt Al Foster eine enttäuschende Vorstellung. Der mit dem Jazz-Rock großgewordene Drummer fühlt sich im Swing-Terrain sichtlich unwohl.

Herausragender Akteur der Session ist John Scofield. Mit warmen Chorus-Sounds formt der Gitarrist harmonische Schichten, die das Klavier mühelos ersetzen. Manchmal simuliert er die zweite Stimme im Bläsersatz. Dann wieder heult die Gitarre auf wie eine Hammond-Orgel. Chamäleongleich spielt Scofield so seinen Chef Henderson an die Wand.

Poor Righteous Teachers / Black business

Obwohl als Texttransporter wichtigstes Instrument dieser Musik, ist die Stimme nur selten Gegenstand der HipHop-Kritik. Einem Sprechwerkzeug musikalische Eigenschaften zuzuordnen, scheint Mühe zu machen. Aber warum sollten Q-Tip, Rakim oder Grand Puba nicht als ebenso charismatische Vokalakrobaten gewürdigt werden können wie Tim Buckley oder Dusty Springfield?

Die Stimmen der MCs Wise Intelligent und Culture Freedom sind auf dem neuen Album der New Yorker Poor Righteous Teachers die halbe Miete. Wenn die beiden - wie im Duett "Rich Mon Time" - halb rappend, halb singend den Stilbereich von Raggamuffin-Toastern durchforschen, hat die Platte ihre großartigsten Momente.

Mit "Pure Poverty" hatten die Teachers 1992 ein in sich ruhendes Gegenuniversum zum übrigen HipHop-Szenar ersonnen: entspannt und Reggae-lastig. Nach diesem Meisterwerk sind dem Trio die Visionen ein wenig flöten gegangen. "Black business" heißt hier, die erfolgreiche Spur von Naughty By Nature und DAS EFX aufzunehmen. Dennoch haben P.R.T. so niveauvoll Mikrosamples aufgeschichtet, daß sie allemal interessant bleiben. Und sie verzichten diesmal fast völlig auf das, was ein delirierender Kollege einmal "funky Weltanschauung" nannte: mit Religion verbrämter Rassismus.
Nirvana / In Utero

Nirvana, die klassische Hab-ich-schon-mal-woanders-gehört- Band. "Nevermind" war ja eine letzte, emphatische Zusammenfassung Hüsker Düscher Melodik, der Akkordwälle von Dinosaur Jr. und Dynamikbögen Fugazis zu einem Zeitpunkt, als so etwas nicht mehr zu erwarten war. Ohne Zweifel ein grandioses Popalbum.

Das neue Werk "In Utero" erinnert in seiner weniger pointierten als liebenswürdigen Übernahme bereits von anderen vorgekauten Materials an den Erstling "Bleach". Ob Beatles, Rapeman oder Nirvana selbst - der Dunst zweiter Garnitur durchzieht die Platte.

Der frühere Chef von Rapeman, Steve Albini, hat sich seit einigen Jahren mit an- scheinend angeborenem Gespür für Sound als begnadeter Produzent erwiesen. Die neue Nirvana ist seine unter dem Gesichtspunkt der Bekanntheit bis dato bedeutenste, doch bei weitem nicht beste Produktion. Albini läßt zwar das Schlagzeug bosseln wie bei Frühsiebziger Glam-Rock-Stars und mischt ein paar interessante Hoch- und Tiefgitarren in den Klangtopf, aber das haben wir auch von ihm schon früher vernommen.

"In Utero" belegt, daß Überraschung kaum reproduzierbar ist. Für diesen Nachweis muss man allerdings kein Geld ausgeben.



Leaders Of The New School / T.I.M.E.

Karnevalströte, orientalisches Horn, Blockflöte, Synthesizer-Tute und Posaune - selten waren so viele Blasinstrumente auf einer HipHop-Platte zu hören. Was nicht heißt, daß das zweite Album der Leaders Of The New School auf der Jazz-Rap-Welle schwimmt. Die Bläser auf "T.I.M.E." klingen nie "amtlich", sondern fiepen verhallt in der Kulisse. Gemeinsam mit verfremdeten E-Pianos und skurrilen Digitalchören stellen sie eine fast orchestrale Klanggruppe dar, die dezent gegen den dominanten Rhythmusavers gesetzt ist.

Samples werden im HipHop kaum noch verwendet, um Aha-Effekte herzustellen. Eher geht es darum, mit ausgesuchten Tonquellen den jeweils angestrebten Gesamtsound zu realisieren. In diesem Hinblick ist "T.I.M.E." ein sensationell geschlossenes Kunstwerk.

Die Beiträge der Rapper unterstreichen diesen Eindruck. Solopassagen und Mitgröhlchöre sind meisterhaft ineinander verschachtelt. Komplexe Silbenanordnungen und überdrehte Gesangssätze bauen immer wieder den Höhepunkt-Rap von Busta Rhyme auf, dessen rauchige Kehlkopfkratzer schon A Tribe Called Quests "Scenario" schmückten. Sein rhythmisch freies Sprechen überholt ebenso unbekümmert das Schlagzeug wie die Leaders mit diesem Glanzstück ihre Kollegen.

KRS-One / Return of the boom bap

Nach sechs Platten mit Boogie Down Productions - ausnahmslos Meilensteine - veröffentlicht KRS-One ein Album unter eigenem Namen. Wenn der ewige Mahner der HipHop-Szene sich darauf an seine Anfänge erinnert, so ist das als Zwischenfazit zu begreifen, nicht als Traditionalismus. Auf seine eigene Schulter klopfte sich der selbsternannte "teacher" seit "I'm Still #1" schon immer gern; auch um dabei in der Abgrenzung gegenüber anderen an Profil zu gewinnen.

In der Single-Auskopplung "Outta Here" kontrastiert KRS-One den Zustand der gegenwärtigen Musikwelt, in der alles eingekauft wird, was rappt, mit seinen eigenen Schwierigkeiten, in der Ära vor Sampling und MTV Karriere zu machen. Selbstzitate, simple Rhythmusmaschinen-Beats und ein Stück mit Human Beatbox verweisen auf diesen Teil der Rap-Geschichte. Der Gegenwart zollt der Stilist mit dem Titel "I Can't Wake Up" Tribut, in dem er als Blunt von einigen der renommiertesten Hip-Hop-Künstlern geraucht wird - eine grandiose Idee und gleichzeitig charmante Art, Credits zu verteilen.

Für einen Großteil der Musik auf "Return of the boom bap" ist Premier verantwortlich. Der Gang Starr-DJ mischt, wie gewohnt, beeindruckend ökonomisch.


1994

Charlie Watts / Warm & tender

"Bewitched", "Someone To Watch Over Me", "Ill Wind" - Meilensteine des amerikanischen Songs. Wir denken an Aufnahmen von Frank Sinatra oder Ella Fitzgerald und an Nelson Riddle-Arrangements. Magic moments. Die hat dieses Album nicht.

Seine Millionen verdiente sich Charlie Watts bei den Stones mit dem konsequent durchgespielten, simplen 4/4-Takt. Was im Rock-Kontext funktionierte und bisweilen zur Vollkommenheit geriet, bedingt hier schematische Orchestrierungen im Einheitstempo. Sicher ist es möglich, Platten mit ausschließlich langsamen Stücken einzuspielen. Aber wo bei Meisterwerken wie Sinatras "In The Wee Small Hours" der Hörer gleichsam mit dem einsamen Trinker an der Theke sitzt, dringt mit "Warm & tender" nur sterile Leere ins Wohnzimmer.

Der Pianist klimpert planlos, der Trompeter intoniert schlecht, die Streicher errichten eine Wand ohne Reibungsflächen. Geschmäcklerische Saxophoneinwürfe, Watts hingetupftes Rascheln auf der Snare-Drum, ein Sänger bar jeder Ausstrahlung - das ist Cocktail-Jazz at its worst.

Warm und zärtlich? Nein, schal und tranig!
T.S. Monk / Changing of the guard

Der Schlagzeuger T.S. Monk, der in den frühen siebziger Jahren in Combos seines Vaters Thelonious mit Jazz begann, um dann kommerziell erfolgreich Funk und Disco-Musik zu machen, ist 1991 mit der Platte "Take One" zu seinen Ursprün- gen zurückgekehrt. Sein junges Sextett spielt modernen, rasenden Hardbop am Gipfelpunkt der technischen Leistungskurve.

Auf ihrem neuen Werk "Changing of the guard" hat die Band neben Standards von Monk senior und Kenny Dorham mehrere weniger bekannte Titel von J.J. Johnson, Clifford Jordan, Idrees Sullieman u.a. im Repertoire. Ausgebuffte Satzarrangements deuten darauf hin, daß sie schon auf dem nächsten Album den Bereich blinden Verstehens im Zusammenspiel betreten könnte.

Trompeter Don Sickler, neben Monk renommiertestes Gruppenmitglied, und Bobby Porcelli (Alt-Saxophon) brillieren mit ihren Beiträgen, besonders in dem Stück "New York" (im übrigen eine gute Illustration für Monks von Elvin Jones kommendes polyrhythmisches Spiel). Das Potential, Monks Anspruch - die Verbindung von Weisheit und Vision - umzusetzen, ist auf "Changing of the guard" deutlich erkennbar.

Herbie Hancock, Wayne Shorter, Ron Carter, Tony Williams & Wallace Roney / A tribute to Miles Davis

Zwischen 1965 und 1967 spielte Miles Davis vier letzte epochale Alben in Akustik-Besetzung ein. Sein Quintett mit Wayne Shorter, Herbie Hancock, Ron Carter und Tony Williams brachte den modalen Jazz in tief reichenden Paraphrasen zur Vollendung und verabschiedete sich nebenbei von Form und Beat. Shorter schrieb atemberaubende Akkordketten, Hancock und Williams schöpften die rhythmische Freiheit, die die Verbindlichkeit einer harmonischen Struktur zuläßt, bis zum Äußersten aus.

Das "Tribute", das die Musiker (Wallace Roney übernimmt den Davis-Part) ihrem verstorbenen Chef nahezu 30 Jahre später entrichten, besteht vor allem darin, die Aufgaben, die das Trompetengenie ihnen damals stellte, mit hinzugewonnener Spielkunst und musikalischem Wissen noch vorbildlicher zu lösen.

Bestes Beispiel hierfür ist eine Version ausgerechnet des vielinterpretierten "All Blues", die Bestand haben wird. So langsam wurde das Stück seit der Originalaufnahme kaum gespielt, so sehr nach Blues klang es nie. Besonders Roney erreicht durch klug gesetzte Intervalle die bei Davis oft herausgehörte Traurigkeit des Tons. Mustergültig!





Wynton Marsalis Septet / In this house, on this morning

Wynton Marsalis bleibt das singuläre Phänomen, das - nicht vergleichbar - einen Einzelplatz im Jazz-Universum beansprucht. Und als wolle er an seinen Kritikern Rache nehmen, ist "In this house, on this morning" das am tiefsten in der Musikgeschichte grabende, gleichzeitig aber hochentwickeltste und visionärste Marsalis-Werk.

Über die Länge von zwei Stunden stellt der Komponist die Rituale eines Baptisten- Gottesdienstes nach. Gospel und Blues nehmen breiten Raum ein, hinzu kommen die obligatorischen Ellington- und Coltrane-Zitate, Spuren von Louis Armstrong, Barbershop-Harmonik und - Bach'scher Choralsatz. Verblüffend ist dabei der Klang in Orchesterdimension, den Marsalis aus sieben Instrumenten herausholt; ebenso die Leichtigkeit, mit der er sich verschiedenste Stile und deren Techniken aneignet.

Die Musik auf diesem Artefakt ist raffiniert, dicht, heiß und ungemein vielschichtig. Sie ist mit Jazz-Hörrastern allein kaum noch zu fassen und kann durchaus als rational durchorganisierte Tondichtung rezipiert werden. Ich sage es laut: Wer Ohren hat, wird diese Platte lieben.










Terence Blanchard / The Billie Holiday songbook

Christof Kurzmann: Die erste Assoziation beim Hören von "The Billie Holiday songbook" ist die mit der Radiosendung "Musik zum Träumen": Ein Programm, das mit oberflächlichem Pseudo-Jazz-Bombast arbeitet und im Gegensatz zu Billies tief empfundenen Songs steht. Das Unbehagen weicht erst mit dem Auftritt der Sängerin Jeanie Bryson - die respektvolle Distanz zum Original hält-, verliert sich aber nie gänzlich.

Christian Berg: Guter, schöner Schmalz, der in der Proklamation einer Ästhetik der Oberfläche "campy" ist: Der Arrangeur Miles Goodman schuf auf Terence Blanchards neuem Album Orchesterpassagen, die weder das tragische Moment in Holiday-Aufnahmen noch exzeptionell sein wollen. Nicht bemüht und doch: nicht antiquiert, stellen sie berückende Augenblicke unbanalen Wohlklangs her.

CK: Das Problem ist aber, daß sich der Sinn der Streicher-Instrumentierung nicht offenbart. Blanchard lebt nicht in den sozialen Umständen, unter denen Billie und Charlie Parker klassische - also "weiße" - Orchester zu brauchen glaubten, um dem Status "Negermusiker" zu entfliehen. Der Einsatz von Streichern soll hier den Blues Holidays einbringen, verwechselt diesen jedoch mit Kitsch.

CB: Die Aufgabe, Holiday nachzuempfinden - die ja der Titel suggeriert - kommt eher Blanchard zu. Leider ist dessen Spiel farblos. Der Trompeter klebt an den Melodien der Vorlagen. Nur in den drei Up-tempo-Nummern hat die Platte kurze solistische Höhepunkte.
Easy Business / Encyclopedia

Die wollten es wissen: "Encyclopedia", das erste Album von Easy Business, steht in puncto grundsätzlicher Abgeklärtheit, musikalischer und klangtechnischer Raffinesse meilenweit über den bis dato erschienenen hiesigen Rap-Produktionen. Der Wunsch nach dem Zertifikat "internationaler Standard" lugt sichtbar hinter jedem Takt hervor.

Zunächst einmal klingt diese Platte wie eine von Fans, doch das Nachschlagen der Band im HipHop-Lexikon ist keines, das bei Referenz beginnt und mit Irrelevanz endet. Hier die FuSchnickens, Leaders Of The New School und A Tribe Called Quest herauszuhören ist eine Sache, grandiose Sommerhits wie "Do You Know How To Chill" und "Military Jams" eine andere.

In ihren Texten pochen Easy Business auf Eigenständigkeit. "Another Style, Another Home" heißt eben nicht - wie vielfach geschehen - amerikanische auf deutsche Gesellschaftsverhältnisse übertragen und damit noch den Ruf nach geilem, aber vor allem deutschem, Rap legitimieren zu können. Compton ist nicht Rödelheim, South Central nicht Rostock-Lichtenhagen.



Derrick Shezbie / Spodie's back

Eine Jazzplatte aus New Orleans - das legt Gedanken an Louis Armstrong und Blaskapellen nahe. Tatsächlich werden auf dem Erstling des 19jährigen Trompeters Derrick Shezbie Proben des Oldtime-Bestandes zum besten gegeben und Themen im Kollektiv-Stil vorgetragen: die Trompete melodieführend, dazu eine Posaune im Kontrapunkt und ein paraphrasierendes Saxophon.

Doch wer Tradiertes bearbeitet, muß kein Traditionalist sein. Im Gegenteil: "Softly As In A Morning Sunrise" demonstriert allen Klassik-Jazzern, wie fortschrittlich ein Standard klingen kann, ein so verstiegenes Klaviersolo wie das von Kenny Kirkland in "Dusk On The Delta" lässt sich nicht am Band erspielen und die Schlagzeugdiktion des Herlin Riley ist neueste Schachtel-Schule. Shezbie selbst folgt in blendender Manier der langen, von Buddy Bolden bis Nicholas Payton reichenden, Linie von Trompetern aus der Stadt am Mississippi.

Postskriptum: Produzent Delfeayo Marsalis hätte auf seine Liner-Notes über den universalen Einfluß "amerikanischer" Musik besser verzichtet.






Roy Hargrove Quintet / With the tenors of our time

Das neue Album des Trompeters Roy Hargrove bietet Anfängern ein gutes Sprungbrett in die Welt des Jazz: so melodiös klingen höchstens einige Blue Note-Veröffentlichungen und Cannonball Adderley-Platten.

Hargrove lud zu "With the tenors of our time" mit Johnny Griffin, Joe Henderson, Joshua Redman, Stanley Turrentine und Branford Marsalis fünf gewichtige Tenor-Saxophonisten ins Studio. Daß sich sein Quintett dem Anlaß entsprechend in den Dienst dieser namhaften Solisten stellt, liegt auf der Hand. Bemerkenswert ist indes, wie die Hintergrund-Arbeiter ihr Spiel ehrfürchtig, aber hochsensibel auf den jeweiligen Star abstimmen: jedes Solo wird von der Band anders begleitet. Selten wurde das Konzept, Gastmusiker in das Zentrum einer Session zu stellen, so gelungen umgesetzt.

Die Einzelbeiträge unterstreichen diese gründliche Vorbereitung: bis auf Griffins vorsichtig ergründende Interpretation von "When We Were One" liegen die erleseneren Spielanteile eindeutig bei Hargroves Mannschaft. Die quirligen Flügelläufe des Pianisten Cyrus Chestnut, Ron Blakes Sopransax-Alleingang in "Once Forgotten", Hargroves Schnörkel und das singende Timbre, in dem er sein Team dirigiert: das ist länderspielreif.



Wallace Roney / Mistérios

Bei flüchtigem Skippen durch die Tracks der neuen Wallace Roney-CD gefiel mir die Bearbeitung des Beatles-Oldies "Michelle" auf Anhieb. Wo Miles Davis in seinen Lesungen von Cyndi Lauper und Michael Jackson mit Schweinekeyboards nervte, bringt Roneys Arrangeur Gil Goldstein jene Blockflöten an den Start, die schon erlesene Spezialität seines Namensvetters Evans waren.

Ein genaueres Hören von "Mistérios" hinterläßt vergleichsweise gemischte Gefühle. Goldsteins Instrumentierung fehlt letzlich doch Mut und Ideenreichtum des Evans vor 1965. Gut: die dissonante Führung der Holzbläser in "Meu Menino" und eine bohrend stoische Marsch-Snare ("Muerte"). Manko: die Streicher klingen wie Synthi-Flächen, die auf dem Cover angekündigten exotischen Soundscapes erweisen sich als die der Karstadt-Musikabteilung. Und das aufregendste Arrangement schrieb Roney: "I Will Always Love You".

Geri Allen, eine der innovativsten PianistInnen der letzten Jahre, kam selten so schwülstig, so wenig verquer. Teile der Platte wirken unkonkret wie schlechter Fusion-Jazz. Allein Roneys Trompetenspiel reißt das Ruder herum: sachte, rezitativ, mit Pep.





John Pizzarelli / New standards

Süße Musik. Liebenswerte Musik. Musik, die seit den Tagen von Vic Godards umstrittenen "Songs For Sale" nur selten zu hören war. Bar-Musik.

Nette-Jungs-Musik: der Sänger und Gitarrist John Pizzarelli sieht wie jemand aus, den sich vor 40 Jahren jede Mutter als Schwiegersohn gewünscht hätte. Typ Paul Anka. Pizzarelli, letztes Jahr im Vorprogramm von Frank Sinatra auf Tournee, führt auf seiner CD "New standards" das Lebenswerk der Crooner Nat Cole und Chet Baker fort. Seine niedliche College-Boy-Stimme (besonders sympathisch: das hart prononcierte "t" in "Better Run Before It's Spring") läßt Harry Connick als abgelebten Eintänzer erscheinen.

Pizzarelli pflegt auf einer 7-saitigen E-Gitarre den ab und an mit Akkorden zersetzten Single-Note-Stil und soliert gerne und gut mit Unisono-Vokalisen. Sein Pianist Ray Kennedy glänzt in drei schnell hüpfenden Improvisationen. "New standards" ist eine Fundgrube für Juwelen der Songschreiber Leiber/Stoller und Mann/Weil sowie anderes Hocheingängiges, das nicht mehr will und nichts besser kann als Spaß zu machen. John Pizzarelli - der neue Prince Charming des Mainstream-Swing.


Joshua Redman / Mood Swing

Es bedarf keiner Seherqualitäten, zu prophezeien, dass Joshua Redman zu den ganz großen Saxophonisten des Jazz gehören wird: 25jährig, scheint die Fertigkeit seines Spiels kaum überbietbar. Auf bisher zwei Alben legte er einige hochklassige Kompositionen vor. Nur ein Problem stellte sich: Die Platten waren keine Meisterwerke. Jemand wie Redman steht unter Druck: Jeder Pup, und erst recht jede Veröffentlichung soll definitiv sein.

Redmans neue CD "Mood Swing" ist immer noch kein Opus magnum, aber sie kommt ihm sehr nahe. Endlich hat der Musiker die seinem Können entsprechende Band. Pianist Brad Mehldau kümmert es in seinen Soli begnadet wenig, wo sich seine Kollegen gerade befinden. Christian McBride und Brian Blade führen die anspruchsvollen Backings mit unbeirrter Präzision aus.

"Josh" schrieb diesmal alle Titel selbst und ersann dramatische Arrangements und schnieke Melodien. Er beweist sich in Balladen, Bossa, Soul-Jazz, Bop, Fusion-Pop und Blues. Das ist beeindruckend. Mehr Stilfixierung hätte "Mood Swing" trotzdem gutgetan. Redman fehlt noch die übergeordnete künstlerische Vision. Oder ist es ungerecht, die Meßschnur für dieses Genie so hoch zu spannen?
Pete Rock & C.L. Smooth / The main ingredient

Ihr erstes Album "Mecca And The Soul Brother", ein Gipfel des Genres, ist einer der letzten Anlässe, bei denen der HipHop-Welt ein frischer Sound vorgestellt wurde: Pete Rocks Bläser- und Orgel-Sampling lebte Soul, die Doppel-Schläge seiner Basstrommel bummerten, C.L. Smooth' Raps kamen ausge- ruht (weshalb in diesem Zusam- menhang fortwährend die Begriffe "erwachsen", "komplex" und "symphonisch" fallen, bleibt allerdings unbegreiflich: seit Doug E. Fresh ist collagierter HipHop alltäglich, und Pete Rock verhält sich zu den Leaders Of The New School wie Hansi Last zu Duke Ellington).

Nach lehrreichen Mix-Jobs kehrt Rock mit "The main ingredient" zurück, einer Kreuzung - sagen wir es gleich offen - von "Mecca" und (durch die Hintertür Roy Ayers-Samples) frühen A Tribe Called Quest. Sicher gibt es Nuancen, die aufhorchen lassen und Hits wie "All The Places" oder "I Gotta Love", doch im wesentlichen ist "The main ingredient" ein verzichtbarer Aufguß. Dass die Platte nach einem furiosen Debüt künstlerisch fehlschlägt, ist eine doofe Routine der Popgeschichte, aber auch hier gilt: keine Weiterentwicklung, Leerlauf. Hoffentlich, um Luft zu holen.




Bill Frisell / Music for the films of Buster Keaton

Bill Frisell ist in den letzten Jahren zum Initiator einer neuen Jazz-Sprache gereift. Nun legt er auf zwei CD's nachträgliche Musik zu drei Filmen von Buster Keaton vor, des Mannes also, der zum Lächeln schnell mal hinters Haus ging.

Die Ambivalenz von Tragik und Humor in Keatons Werk lässt sich auch für Frisells Musik nachweisen. Der Klang seiner Gitarre gemahnt mit klagend-elegischen, mehrstimmig geführten Bottleneck-Linien an Ry Cooder. Schlagzeuger Joey Baron hingegen konterkariert durch sparsam plazierte, arhythmische Schläge (wie ein Stolpern Keatons) jeden Anflug von Pathos in Frisells Spiel. Es gibt keinen Drummer, der gleichzeitig so verwinkelt und so exakt zu Werke geht. Überdies zählt Baron zu den wenigen Erleuchteten, die das Schlagzeug auch melodisch begreifen.

Kompositorisch folgt Frisell der erprobten Methode für Filmmusik. Jede Partitur basiert auf 4, 5 Grundthemen, die in immer neuen Kombinatio- nen durchvariiert werden. Die Kunstfertigkeit dieser Materialverarbeitung zeigt sich am deutlichsten auf "Go West", wo aus 5 Motiven 24 Stücke entstehen, die schließlich ähnlich weit vom Ausgangspunkt weg paraphrasieren wie die hochentwickelten Variationen Bachs oder Beethovens.

Obgleich Frisells Gitarre viel dominanter ist als auf früheren Platten, gibt es kaum Soli im tradierten Sinne; Improvisiertes und Komponiertes sind nicht zu unterscheiden: die Redefinition moderner Triomusik.

1995




Marcus Roberts / Gershwin for lovers

Marcus Roberts ist ein Pianist aus Jacksonville/Florida, der für Jelly Roll Morton, Fats Waller, Erroll Garner und Thelonious Monk schwärmt und seinem Spiel den virtuosen Expressionismus dieser Riesen des Jazz-Klaviers injiziert. Das siebte Roberts-Album ist ein Liederbuch eines anderen großen Klavierimprovisators (der jedoch nicht - wie Morton - im Puff aufspielte, sondern auf Jetset-Parties): George Gershwin.

Gershwin und Jazz - das ist zwar eine Sache von Übertreibungen, aber Gershwin war der erste Popkomponist, dessen Klavierarrangements so sehr Teil seiner Songs waren, daß, wer sie ignorierte, Stilbruch beginge. Gershwin spielte nicht nur, sondern schrieb "heißes" Klavier. Vielleicht ein Grund dafür, daß der Pfad der Gershwin-Interpretationen mehr oder minder ausgelatscht ist.

Da mußte ein Marcus Roberts kommen, um sich von "Summertime", wie wir es kannten, zu emanzipieren: Cole Porter-Beguine-Trott mit Tambourin und Kuhglocke, ungewöhnlich schnell, harfenartige Arpeggiaturen. Oder von "It Ain't Necessarily So": Ellington-Rhythmus mit Filzschlägeln, Melodie im höchsten Diskant, beidhändige Triller. Erstklassige Platte eines Musterschülers.
Howard Johnson's Nubia / Arrival

Vor nunmehr zwanzig Jahren ging die Karriere von Pharoah Sanders den Bach hinunter. In den Sechzigern als Kronprinz Coltranes aufgestiegen, blies der "high energy player" das Tenorsaxophon mit der Intensität von tollwütigen Gänsen - eine Lichtgestalt des Free Jazz. Dann jedoch verließen ihn die guten Ideen. Heute ist Sanders weit entfernt von Comebacks à la Joe Henderson. Umso mehr nimmt es Wunder, daß jetzt eine Platte von Howard Johnson noch einmal Sanders' große Zeit Revue passieren läßt.

Johnson hat einige der feierlich-spirituellen Kompositionen Sanders' ausgewählt, Klang-Environments auf modaler Grundlage, die von bordun-artig verwendeten Orgelpunkten, Tremoli, viel Pedal und Zimbelgerassel leben: jeder Akkord klingt wie ein ausladendes, pompöses Finale. Hinzu kommen Stücke aus der Feder von Johnson, die die Brücke zu Rock und Fusion schlagen.

Das alles ist zwar nicht so radikal instrumentiert und gespielt wie bei Sanders, Johnson schreit auch nicht wie ein Wilder in sein Baritonsaxophon, trotzdem aber ein sympathisches und originelles Projekt zur Rehabilitierung eines Verdienten.


Scott Walker / Tilt

Schön, daß Scott Walker wieder da ist - seine letzte Platte erschien 1984, die vorletzte 1978. Vorweg: "Tilt" ist noch persönlicher, eigenartiger und kategorischer.

Bezogen auf Walkers Phantasien über Größenwahn, koitale Begehrlichkeiten, Nylonstrümpfe, Ehebruch, Drogen verabreichende Quacksalber, Ramlaer Hängungen, Buffalos und die Luzerner Zeitung (früher nannten sie das "assoziative Lyrik") wirkt das Attribut "kryptisch" lachhaft untertrieben. Und verglichen mit dieser barocken Schafott-Musik müssten Talk Talk in die Rubrik "bodenständiger Rock" umklassifiziert werden.

Hier bläst eine aufwändige Produktion Kirchenorgeln und sehr, sehr tiefe Trommeln zu einem ätherisch-bombastischen Hohlklang auf, der Ligetis Cluster-Parties oder einen Autotunnel unter den Alpen evoziert. Wiederholt scheint "Tilt" als nachträgliche Vertonung expressionistischer Stummfilme zu fungieren.

Wie immer steht Walker zwischen den Polen Schneid und Pathos. Die große Geste im Stile eines Bono vermeidet er. Walker vermittelt sie als Exklusion, und Unzugänglichkeit als ziemlich anziehende Option. Das sollten wir ihm danken.



The Cardigans / Life

Ich bin so dermaßen mit Musik vollgepumpt, daß das Hören einer neuen Platte nur noch selten unmittelbare Euphorie bei mir hervorruft. "Life" von den Cardigans hörte ich zufällig in einem Laden und mußte sie, die Pop-CD des Jahres, sofort kaufen.

In The Cardigans kulminiert die lange, von den Watermelon Men bis zu Eggstone und Popsicle reichende Linie schwedischer Gitarrenbands mit Hang zu Sixties-Melodik. Diese Linie läuft zweispurig: Retros wie die Backdoor Men, Stammhalter, deren Uhren - musikalisch wie optisch - 25 Jahre nachgehen; und Zitat-Meister wie The Wannadies oder The Cardigans, die trotz gelegentlicher Bezüge auf Beatles und Beach Boys erstaunlich modern klingen (eine Polarität wie zwischen Fuzztones und dB's, zwischen The Kaisers und Blur).

The Cardigans bedienen sich eines putzigen Instrumentariums aus Rickenbacker, Pernod-Flasche, Streichern, Glockenspiel, Orgel etc. Sie bauen dezent jazzige Gitarrenakkorde in ihre Weltklasse-Songs ein. Die Sängerin erinnert an Lora Logic, die Band an Dislocation Dance und die Pale Fountains. Das Wichtigste zum Schluß: "Life" ist das eingängigste Album seit "Very" von den Pet Shop Boys.


Roy Hargrove / Family

Und wieder nimmt Roy Hargrove ein Konzeptalbum auf, das keinen Sachverhalt, sondern eine Personengruppe thematisiert. Wie seine letzte Platte, Honneurs an die Tenor-Saxophonisten, stellt "Family" Hargrove in die Mitte erlauchter Jazz-Musiker - hier jene, die in seiner bisherigen Entwicklung eine Rolle spielten.

So spektakuläre Ergebnisse wie "With the tenors of our time" zeitigt das indes nicht - die Gäste und die Stücke, die sie mitbringen, fügen sich in das Diktat von Motiv und Solo. Allein die Auswahl gutklassiger, kaum bekannter Fremdkompositionen wäre zu loben, gäbe es nicht einige Ausnahmen:

Stephen Scott kehrt nach vier Jahren zu Hargrove zurück und bestätigt mit "The Challenge" die schöpferische Größe seines Jahrzehntwerkes "Aminah's Dream", Hargrove steuert "The Trial" bei, Teil einer für das Lincoln Center verfaßten Suite, und sein "Roy Allan" schwebt sehr elegant auf einem funky Backbeat.

Letzten Endes ist "Family" aber nicht unerläßlich (zumal auch die Solisten keine Glanz- lichter setzen), eher Bürgerpflicht für Stephen Scott-Fans und solche, die es werden müssen.

Morrissey / Southpaw grammar

Ich werde hier nicht mit dem Morrissey abrechnen, der in Posterform in meinem Kinderzimmer hing: The Smiths waren eine gute, wichtige Band, Johnny Marrs Gitarrenriffs - auf Rock/Pop bezogen - außergewöhnlich, und Morrissey gelangen einige Zeilen, die Anziehungskraft auf an der Menschheit verzweifelnde Stubenhocker ausübten.

Doch Morrissey hat sich verändert: er ist zu einer griesgrämigen, verbitterten Hassmaschine geworden. Seine Texte sind mittlerweile weder romantisch noch so einnehmend ironisierend wie im Smiths-Spätwerk. Sie sind nur noch zynisch.

Morrissey '95 scheint ausschließlich aus Hass zu bestehen. Hass auf Lehrer, Hass auf Romanschriftsteller (Morrissey liest am liebsten Sachbücher - bilden die die Realität besser ab?), Hass auf Reiche und Schöne, Hass auf Migranten ("England muß englisch bleiben").

Auf der Single "Dagenham Dave" singt Morrissey dann das Lob des ungekünstelten, bescheidenen Underdogs von der "front line", der es nicht nötig hat, zu kämpfen oder Dinge in Frage zu stellen. Was er eigentlich meint, ist: es sollte super in England sein, wenn du weiß, britisch und ein Mann bist.


The High Llamas / Gideon Gaye

Über Sean O'Hagan lässt sich einiges erzählen: er war musikalischer Kopf von Microdisney, assoziiertes Mitglied bei Stereolab (und als solches zuständig für deren eher mildere Seite), ist Beach Boys-Fanatiker und Experte für mehrstimmige Arrangements. Seine Band The High Llamas existiert seit 1992, "Gideon Gaye", ihr erstes langes Album, erschien in England bereits im letzten Jahr.

O'Hagan scheint das Werk Brian Wilsons, besonders das der schizoiden "Smile"-Phase, in seinem Schädel verankert zu haben - er wirft mit gleichmütig Viertel schlagenden Orgeln oder Pianos, Streichersätzen, Chören, Tremolo-Gitarren, Glockenspiel und anderen Beach Boys-Merkmalen um sich.

Gleichwohl erschöpft sich "Gideon Gaye" nicht darin, feststellen zu können, in welcher Passage O'Hagan welche Wilson-Obsession auslebt. Sein verschrobenes Lehrstück über die Borniertheit von Landeiern hat zwar nicht die Tiefenschärfe der Texte Cathal Coughlans (Microdisney), dafür aber, mit poröser Stimme im Stile eines Donald Fagan vorgetragen, bockende Melodien in Hülle und Fülle.




John Coltrane / Stellar regions

"Stellar regions" entstand am 15. Februar 1967, 5 Monate vor John Coltranes Tod. Nur ein Titel ist bereits von Coltranes letzter Platte "Expression" bekannt, einem Album, dessen Stellenwert im Werk des Saxophonisten häufig unterschätzt wird: Coltrane war an eine neue Stufe seiner musikalischen Entwicklung gelangt, und hatte begonnen, die Möglichkeiten und Techniken des freien Spiels mit dem majestätischen Lyrismus seines Opus magnum "A love supreme" zu verbinden.

So sind auch hier gravierende Unterschiede sowohl zu Coltranes Aufnahmen mit dem "klassischen" Quartett als auch zu Veröffentlichungen wie "Ascension" hörbar: bare, reife Kammermusik, unbedeckt von Ride-Becken und Blockakkorden, kompakte Stücke mit wieder kürzeren Soli; aber auch keine Kollektivimprovisation im strengen Sinne - Coltrane wird, frei, begleitet.

Mitzuverfolgen, wie John Coltrane seine ganze Grandezza aufbietet, um in die Akkorde hineinzuforschen, ist auch im Fall von "Stellar regions" eine der schönsten Optionen im Lebenslauf eines Musikliebhabers. Diese Musik ist von würdevoller Ruhe, die sich überträgt - Free Jazz zum Relaxen (klingt ironisch, ist es aber nicht). Eine sensationell gute Ausgrabung. Grabt weiter!






Brian Wilson and Van Dyke Parks / Orange crate art

Dies ist eine Van Dyke Parks-CD, der Brian Wilson seine Stimme und seinen Namen spendierte. Nicht mehr.

Parks ist ein notorisch überbewerter Musiker, der vor 30 Jahren ein paar spleenige Texte schrieb, mit "Song Cycle" ein für damalige Verhältnisse ziemlich durchgeknalltes Debüt einspielte und schließlich 1972 das Juwel "Discover America" veröffentlichte. Danach blieb Parks musikalisch stehen. Er, der eigentlich immer in der Vergangenheit lebte, ist mit seinem Musical-Faible, seinen überladenen Streichorchester-Arrangements und dem übrigen Schmalz seit mindestens 2 Dekaden outdated.

Zu Parks' Regression als Texter nur folgender Vergleich: "I was there upon a four poster there/Mind touseled I came to bear some thoughts from the past amid a dash of influenza" ("Song Cycle"). "She was a debutante/ Give her just what she want/ You tell her just where to go/ Down to the drive in show/You be my river beau" ("Orange crate art").

"Orange crate art" hätte treffender "Vans great fart" geheißen. Dies harmlose Etwas stellt - durch Wilsons Beteiligung - eigentlich nur eines dar: Parks' mit Abstand meistverkauftestes Album.

1996




Pharoah Sanders / Message from home

Dusty Springfield sagte einmal, das Wort "Comeback" würde sie stets alarmieren, weil es den Versuch, zu sein wie du warst, impliziere. Nach dieser Hypothese wäre das erste Album des mittlerweile 55-jährigen Tenorsaxophonisten Pharoah Sanders auf dem Label "Verve" kein Comeback, eher ein Neubeginn auf dem Fundament des bisher Vollbrachten. Denn Sanders ist mit "Message from home", produziert von Bill Laswell, eine bündige, durchdachte, vollends unpeinliche CD geglückt, die seine seit 30 Jahren bekannten Gestaltungsmittel mit Tanzbeats kombiniert. Hinzu kommen folkloristische Elemente afrikanischer Musik, die für den Grundgedanken dieser Platte stehen: dem "Acknowledge Your Own History" eines Afroamerikaners.

Gleichwohl sind hier keine spektakulären Soli und Virtuosenaudienzen zu erwarten. Sanders macht zwar mit Über- schallgekritzel, Schreien eines Schweines vor der Schlachtung und hymnischen Eruptionen, die ihn als legitimen und authentischsten Nachlaßverwalter Coltranes bestätigen, seine Seele frei, das Faszinierende des Werkes liegt jedoch in dessen Gesamtwirkung und vielen Details der Instrumentierung. Überraschung.


Stereolab / Emperor tomato ketchup

Ein Riesenschritt. Gegen "Emperor tomato ketchup" nimmt sich das bisherige Schaffen von Stereolab wie ein Training für das große Abschlußrennen um die Eckpfeiler postmoderner Rock und Pop, elektronische und Experimentalmusik aus.

Die Platte ist und dokumentiert einen Wandel. Denn ging es in der Rezeption von Stereolab zuvor lediglich um die Einflüsse zwischen Hintergrundkitsch und dronigem Krautuntergrund, muß das Thema jetzt ein anderes sein: die Synkrisis von analoger und digitaler Musik, in der statt Melodie, Harmonie und Rhythmus zunehmend Sound als maßgebender Wert fungiert.

Nicht umsonst holten sich die Musiker für mehrere Stücke John McEntire von Tortoise als Produzenten. Der brach nicht nur - als Gastinterpret neben Sean O'Hagan und Brad Wood - die Noisescapes der Band mit Percussion-Miniaturen und brachte Dub-Effekte und Loops ein, sondern ließ die Endstruktur so durchlässig klingen, daß noch die kühnsten Passagen cremig im Ohr landen. Vermutlich sorgt diese "Ausproduziertheit" dafür, daß das (Ver-)Suchen der Gruppe erfolgreich ist, das "Tomorrow Is Already Here" eines Songtitels keine Anmaßung bleibt.

Beck / O-de-lay

Der Fluch dieser CD sind die Produzenten: Die Dust Brothers betreuten vor Jahren halbwichtige Rapper wie Tone Loc und machten "Paul's Boutique" zu der umstrittenen Beastie-Boys-Platte. Das war 1989, und das Signet, das die beiden "O-delay" aufdrückten, ist das gleiche.

Durch Becks neues Album zieht sich eine Frage: "Was soll jetzt dieses Sample?" Weshalb hält der Beat immer wieder an, werden willkürlich Geräusche, Auschnitte aus "Desafinado" und der "Unvollendeten" in den Break gemixt, warum bekommt dieselbe Melodie 5, 6 verschiedene Untermalungen, wie können an sich gute Stücke so dermaßen überladen werden?

Letztlich machen diese Gimmicks aus Beck einen Novelty-Act und konterkarieren dessen Beitrag, die Songs. Nur einmal, in "Ramshackle", lassen sie ihn in Ruhe. Das Lied ist friedlich, eingängig und schier wie seine besten. Produziert wurde es von anderen.

Wir haben also viele gute Melodien bei gleichzeitigem Gefühl von Überdrehtheit, das in Genervtsein übergeht. Keine schlechte, aber eine wütend machende CD.


Ennio Morricone / Mondo Morricone

Alles ist ein großes Missverständnis. Egal: "im Zuge der aktuellen Easy-Listening-Euphorie" (Info der Plattenfirma) wird Musik herausgegeben, die Ennio Morricone zwischen 1968 und 1972 für italienische B-Filme schrieb, und das ist gut. Weil "Mondo Morricone" Einblicke in unerwartete Aspekte eines Genies gibt.

Diese Musik hat nichts mit den eleganten Melodien und Instrumentierungen der Spaghetti-Western, nichts mit dem Drama von Monumentalwerken wie "1900" oder "Moses" und auch nichts mit den experimentellen Partituren für "Copkiller" und "Violent City" zu tun. Sie ist leichter, aber nicht anspruchsloser, und steht in einer Linie mit den 60s-Soundtracks "What's New Pussycat?" und "Casino Royale".

Morricone verzichtet hier auf riesige Streichkörper und arbeitet mit kleineren Besetzungen: Interessant ist die Kerngruppe mit ätherischer Frauenstimme, Cembalo, Flügelhorn, Baß und Schlagzeug. Zwar läßt der Tonsetzer in einigen Stücken etwas zu sehr Jobim, Bacharach und Brian Wilson hochleben, entgleist manchmal sogar in 08/15-Beat-Pasticcios. Doch Akkordwechsel wie aus dem All und weitausholende Ohrwürmer manifestieren die Grandeur Morricones.

Wieviel Musik muß in diesem Menschen gewesen sein, um gleichzeitig "Spiel mir das Lied vom Tod", diese Pop-Hits und klassische Orchesterwerke zu komponieren, und in der "Nuova Consonanza" abstrakte Avantgarde zu erimprovisieren? Imposant.

1997




Tom Harrell / Labyrinth

Tom Harrell ist 50 und seit mehr als zwanzig Jahren auf Platten zu hören. Er spielte mit Gerry Mulligan, Bill Evans und Horace Silver. Dennoch: Harrell ist weitgehend unbekannt geblieben, seine Veröffentlichungen auf Kleinlabels wie Chesky und Contemporary wurden wenig zur Kenntnis genommen.

Die erste Arbeit des Trompeters für den Multi RCA/BMG sollte diesen Zustand ändern. Harrells Kompositionen gehen ins Ohr, seine Arrangements für eine Bläsergruppe (plus Rhythmussektion) folgen dem Musterbild Miles Davis Capitol Orchestra, der Stil ist moderner Hard Bop.

Die Höhepunkte einer herausragenden Jazz-CD des Jahres 1996 liegen also in der Struktur: das Hancocks "One Finger Snap" ähnelnde, verwinkelte Thema von "Cheetah", die "Blue In One"-Melodielinie, das Oboenmotiv aus "Majesty", die Gospel-Harmonik von "Bear That In Mind". Der Vollständigkeit halber: Steve Turre und Joe Lovano haben mitgespielt und Tom Harrell ist ein verdammt versierter Trompeter.





Blur / Blur

Damon Albarn hat eine harte Zeit. Depressionen, im Vollrausch auf Tanzflächen schlafen, Sinnkrise, Unzufriedenheit mit der eigenen Rolle als Sänger, Oasis-Schock, Enttäuschung über die letzte Blur-CD "The Great Escape", Wut über doofe Britpopper - das schrieh nach einem radikalen Bruch als Neuanfang. Und wenn nur als Selbstschutz, um Vergleichen und Verrissen aus dem Weg zu gehen.

Damon hat es gut gemacht. "Blur", die fünfte Platte seiner Band, ist beeindruckend mutig, durchgeknallt und einzigartig. Voll von raffinierten Gitarrenriffs, schrägen Orgelakkorden und vor allem abgefahrenen Effekten. Die produktionstechnischen Details des Albums sind Legion. Meine Lieblingsstelle: In "On Your Own" ist in einem abgewandelten "Louie Louie"-Riff statt des vierten Akkordes nurmehr das Scheppern der Hallspirale zu hören.

Es gibt Hits, dunkle Meditation, traurige Abgesänge an den Hedonismus, Punk-Aufbrausen und das 8-Minuten-Stück "Essex Dogs", das fast ausschließlich auf Geräuschen und Sprechgesang basiert - ich bin sehr, sehr begeistert.

Jetzt sind sie noch wichtiger geworden.





Charlie Haden & Pat Metheny / Beyond the Missouri sky

Diese Musik ist sehr eben. So plan hingestreckt wie das Coverfoto mit seiner weiten horizontalen Perspektive, mit der Leere der Landschaft, ohne Lücken, ohne Eingriff, stoisch ruhend. Cover und - manchmal - Musik erinnern an den Film "Paris, Texas". Nur daß "Beyond the Missouri sky" über Missouri spricht, die Heimat von Charlie Haden und Pat Metheny.

Das alles sollte nicht abwertend verstanden werden. Die CD funktioniert oberflächlich, sie kommt erst richtig gut, wenn Du weghörst, wenn sie im Hintergrund läuft. Dann fügen sich die Soli in einen übergeordneten Klangeindruck einer bestimmten Art des Zusammenspiels von Kontrabaß und Akustik-Gitarre ein. Und der bleibt. Danach bohren sich die poppigen, bisweilen fast kitschigen Themen in Dein Unterbewußtsein.

Letzlich ist dies eher ein Metheny- als ein Haden-Album. Metheny ist dominant, seine Soli sind häufiger und länger, in die zweite Hälfte der Platte baut er dezent Synthie-Flächen und Fusion-Harmonik.

Romantisch, wie Kino sein kann. Charlie Hadens Quartet West im 16mm-Format, ohne Technicolor und Hollywood-Glam, viele Jahre später.







Bee Gees / Still waters

Die Bee Gees sind hip. Im vergangenen Jahr wurden sie unvermittelt zum begehrtesten Objekt für Coverversionen von Boygroups, sind selbstverständlich Bestandteil des Disco-Revivals und dürfen 1997 eine Serie von Auszeichnungen entgegennehmen.

Und die recht mißratenen Neufassungen machten vor allem deutlich, wie gut die Originale waren. Vielleicht veranlasste das grotesk Übertriebene in ihrer Musik dazu, diese Band permanent zu unterschätzen, vielleicht ist eine neue Generation mit einer anderen Denk- und Hörweise empfänglicher für die Eigenarten der Bee Gees.

Wie gehen die mit dem neuerlichen Rummel um? Die Bee Gees feiern die Institution Bee Gees. Nach 30 Jahren haben sie es nicht mehr nötig, bei anderen zu klauen, und wenn sie es bei sich selbst tun, dann so, daß man es gerne hört. Erstaunlich übrigens, daß die sonst bei Rock-Opas üblichen geschmacklichen Irrläufer völlig fehlen.

Und auch wenn Robin mittlerweile nurmehr durch die aktuellen Schaubuden dieser Welt torkelt und dabei mehr neben sich als gerade steht - wir sollten es uns offen eingestehen: diese endlosen Gesangstremoli können gar nicht lang genug sein, diese Falsettchöre sollten niemals aufhören.
McCoy Tyner / What the world needs now

Enttäuschend. Ein Meister der Improvisation spielt Songs des Pop-Genies Burt Bacharach - das hätte großartig werden können. Die Idee, Bacharach mit einem kompletten Album seiner Musik in die Jazz-Galerie aufzunehmen - den „Klassikern“ Ellington, Gershwin etc. schon lange zuteil geworden -, ist gut und überfällig. Die Kompositionen sind anspruchsvoll, d.h. als Improvisationsgrundlage ergiebig (obwohl sich ein etwas tieferes Graben bei der Auswahl des Materials zweifelsohne rentiert hätte). Woran also liegt es?

Im Wesentlichen daran, daß Tyner nicht viel mit und aus den Stücken macht. Der Pianist bleibt zwischen Nach-Spielen der Melodien und Extempore kleben, richtig abstrahieren tut er nie. Das klingt dann fast wie jene massenkompatiblen Orchesterversionen einschlägiger Gassenhauer, die Leute wie Ferrante & Teicher und Mittäter in den Sechzigern verzapften.

Apropos Orchester: John Claytons abenteuerliche Arrangements machen die Einfallslosigkeit Tyners bedingt wieder wett. Wie Perlen vor die Säue.













Arto Lindsay / Mundo civilizado

Arto Lindsay wurde durch seine wundersame Punk-Jazz-Gitarre bei den Lounge Lizards und die Beteiligung an den Bands DNA, Golden Palominos und Ambitious Lovers bekannt. Sozusagen ein Synonym für New Yorker Avantgarde. Erst seit einigen Jahren hat der in Brasilien Aufgewachsene die Musik dieses Landes wiedergefunden: Lindsay produzierte Caetano Veloso und Marisa Monte, schrieb Liner Notes zur „Brazil Classics“-Reihe und spielte schließlich selbst ein Album mit Bossa- und Samba-Anteilen ein.

Auf seiner neuen CD „Mundo civilizado“ bedient Lindsay ausschließlich die akustische Gitarre. Die und sein gehauchter, verschüchterter Gesang prallen auf Sounds und Samples aus der Konserve. Und gewinnen letztlich die Oberhand. Die „harten“ Elemente bleiben angedeutet oder im Hintergrund - Tupfer in einem angenehm melancholischen Gemälde. Wem die Musik der Amerikaner Michael Franks, Hirth Martinez und Chet Baker etwas sagt, wer bestimmte Platten der Brasilianer Joao Gilberto, Antonio Carlos Jobim und Caetano Veloso schätzt, wer sehr ruhige, zurückgelehnte Songs mag, ist hier gut aufgehoben.

Auf der parallel erschienenen Remix-CD „Hyper civilizado“ (Gramavision/EFA) konstruieren New Yorker DJs aus Lindsays Material neue Welten. Musik, die auf einer vollkommen anderen Ebene „funktioniert“: schläfrige Hip-Hop-Beats, repetitive Muster, tiefe Synthie-Bässe. Das ist über weite Strecken relativ beliebig - bis auf zwei, drei Ausnahmen und einen wirklich herausragenden Track: Mit dem „Complicity Opulent Mix“ stellt das Elated System organische, souveräne, aufregende neue Musik vor. Du kannnst es auch Drum & Bass nennen.



Oasis / Be here now

Ich habe an Oasis immer deren gigantomanisches Gebaren gemocht, das der Band niemals, dem Publikum - stellvertretend für die Band - aber sehr häufig peinlich ist. Die Musik kann nie bombastisch und überproduziert genug sein, jedes Gitarrenriff buhlt um Einlaß in die Ahnengalerie des Rock, jedes Arrangement-Fitzelchen soll zumindest die Beatles in den Schatten stellen.

Über die Selbstinszenierungskünste von Oasis brauchen wir nicht mehr zu reden - so Glam und Diva, wie es sich die Gallaghers von Stars vorstel- len, zu deren Lebzeiten sie noch nicht mal geboren waren. Jeder öffentliche Auftritt ist ein Zug mit der Dame: bewußt gesetzt, klug eingefädelt, wohldosiert.

Alles an Oasis ist durchgestylet: Musik, Darstellung in der Öffentlichkeit, Cover, Schrift - das übertrifft jede Teenie-Band bei weitem. Oasis ist eine Seifenblase aus musikalischer Ideenlosigkeit, die durch geniales Klauen (noch) kompensiert wird, kruden Ideen von Startum, Größenwahn und dem Wissen, wie das alles millionenfach verkauft wird. Das Foto auf „Be here Now“ könnte denn auch sagen: Wer es sich leisten kann, einen Rolls Royce in den Swimming Pool zu fahren, muß wirklich over the top, Giga-Star sein. Oder völ- lig cool durchgeknallt.

Hier stimmt das Klischee vom „love it or leave it“. Ich mag sie, weil sie doof sind, aber immer dick auftragen, und vielleicht auch gerade deshalb, weil der Bluff so offensichtlich ist.

Chico Buarque / Chico total

Es ist eine Schande, dass "Chico total", eine Compilation mit Aufnahmen von 1966 bis 1985, erst die zweite Veröffentlichung des Ausnahmemusikers Chico Buarque in Deutschland ist. Dabei war Chicos erster Hit, "A Banda" (zu deutsch: "Zwei Apfelsinen im Haar und an den Hüften Bananen..."), eine Zeitlang ein vielgespielter Titel zu Fasching und Silvester. Und in Brasilien ist das Multitalent seit 30 Jahren ein Idol - dank 17 Solo-Alben, zahlreicher Film- und Theatermusiken und zweier Romane; dank seiner gezielten Kritik an Mißständen und undemokratischen bis faschistoiden Praktiken, die er mit präzisen Zeichnungen des Lebens der kleinen Leute verbindet.

Buarque schreibt kluge, herrlich modellierte und hochpoetische Texte, deren Sinn sich oft erst am Ende exorbitanter Strophen in Form einer Pointe erschließt. An Zauberei grenzen jedoch vor allem seine Melodien: Langlinige, dunkle, häufig chromatische Bandwürmer mit kühnen Sprüngen und großem Umfang, die aber stets "pur", nie konstruiert wirken. Als Melodist ist Chico mit Richard Rodgers und Burt Bacharach einer der Giganten dieses Jahrhunderts. Auch deren Melodien benötigen nicht die Unterstützung der Harmonie, um ihre Existenz zu rechtfertigen, d.h. die Zuhörer brauchen zum Genuß der Melodie keine Akkorde.

Um einem Künstler solchen Ranges befriedigend zu würdigen, bedürfte es eigentlich mindestens einer CD-Box. "Chico total" ist also hoffentlich nur der erste Teil einer großen Serie.


1998











Charlie Haden & Kenny Barron / Night & the city

Siebeneinhalb Minuten macht die Aufnahme den Eindruck eines intimen, nächtlichen Studiotreffens. Dann wird der Zuhörer durch das klatschende Publikum aufgeschreckt und gewahr, daß es sich um ein intimes, nächtliches Konzert handelt. Je länger der Bassist Charlie Haden und der Pianist Kenny Barron spielen, desto lauter wird das Klappern an den Tischen der Gäste - doch wirkt dieser Krach nicht stö- rend, sondern hilft als Anekdote noch die Vorstellung von Intimität erzeugen.

Das gilt auch für nicht erfolgte Reaktionen: Hadens Solo im "Twilight Song" ist so sehr Begleitung, seine Begleitung so sehr Solo, daß die Leute nach dem Solo nicht applaudieren. Haden belegt (zum wievielten Mal?) seine Meisterschaft, sich zurückzunehmen; fantastisch seine melodische Erfindungsgabe, beeindruckend sein Spiel in "For Heaven's Sake": total (nach) vorn, (Barron) pushend, aber nie enteilend. Haden ist in seinen wenigen Soli rhythmisch präziser als Barron in dessen Begleitungen. Der läßt zuviele Akkorde stehen, macht unnötige Pausen, scheint zeitweilig sogar das Metrum zu verlieren, und bringt dadurch auch Haden aus der Fassung.

Auf der anderen Seite glänzt Barron durch überraschende rhythmische Ideen, moussierende 32tel-Läufe und im-/expressionistische Einleitungen. Er verteilt die Töne wie derangiert in der Luft schwebende Partikel, Luftschiffe, Sonden, Zeichen. Unterm Strich deshalb eine geglückte Verbindung aus melodischem und rhythmischem Einfallsreichtum.
Arto Lindsay: Noon chill

„I do love your lack of expression/...life is.../Covered with details and fuss/You are one of those creatures who simply are/.../Simple as okay“ lauten die schönsten Zeilen im bezaubernsten Song auf der neuen CD von Arto Lindsay. Und sagen alles über sie.

Denn mehr noch als seine vorangegangenen Alben dokumentiert „Noon chill“ Lindsays Sehnsucht nach Schlichtheit, sein Hingezogenwerden zum Zentrum des Songs. Auf dem Weg dorthin raubt der Künstler den ihm Nachfolgenden einige Steigeisen und lässt lediglich Anhaltspunkte stehen.

Die Instrumentierung geht über Akustik-Gitarre, programmierte Keyboard-/Klang-Einwürfe, Percussion (die Rhythmen häufig nur andeutet, nicht ausspielt) und Artos lindes, samtiges Ausatmen selten hinaus. Die Texte: fragmentarisch, keine vollständigen Sätze, nur Skizzen, Hingeworfenes in einem Notizbuch, Auslassungen, die - wie auch die Musik -, Raum zum Weiterdenken geben.

Diesem würdigen Grandseigneur des Wesentlichen und der Genügsamkeit ist als limitierte Auflage eine Bonus-CD mit fünf Titeln beigefügt.





Jeff Buckley / Sketches for My sweetheart the drunk

Wie hätten die Songs geklungen, wenn Jeff Buckley nicht am 29. Mai 1997 ertrunken wäre? Wäre die Düsternis und der Mut dieser Demo-Versionen später noch durch Produzenten, Plattenfirma oder Band glattgebügelt worden?

Was bleibt, ist Vorgestelltes, Hypothese. Und etwas anderes, stärkeres: das Gefühl des Verlustes eines Rohdiamanten, der den abgewirtschafteten Karren Rock-Musik tatsächlich noch ein gutes Stück weiter hätte ziehen können.

Zu konstatieren ist die unglaubliche Wandlung, die sich Buckley in der kurzen Zeit von den Folk-Tagen seines Debüts "Live At Sin-é" über das rockig-sphärische Album "Grace" bis zu diesen Ehrfurcht gebietenden Aufnahmen erarbeitet hatte.

Unter den 19 Titeln der Doppel-CD sind sowohl die zwei hittigsten, die der 31jährige bis dahin geschrieben hatte, als auch nicht eben einfaches Material voller dunkler Melodien, komplexer Arrangements und aberwitziger Gitarrensachen.

Schwere Kost, sicherlich, doch allein die Intensität der Stimmungen, die Buckley inszeniert, ist zutiefst beeindruckend. Und über allem vibriert seine Stimme: so voluminös, so nasal, so überdreht ...





Elvis Costello & Burt Bacharach / Painted from memory

Es war höchste Zeit für die Rückkehr von Rimshots und Western-Klavieren. Zeit für das Comeback von Burt Bacharach, ein Comeback, das - immer einen Rahmen vorausgesetzt, der keine bahnbrechend neue Musik und keine futuristischen Klänge erwarten lässt - triumphaler nicht hätte ausfallen können. Bacharach schrieb für "Painted from memory" seine schönsten Kompositionen seit 1975, zwölfmal hohe Kunst des Songwritings, kein Ausfall. Und er knüpft in den Instru- mentierungen an seine genialste Phase an, nicht an die zu schmalzigen, überproduzierten Aufnahmen der letzten 15 Jahre. Schon erstaunlich, wie jemand wie Bacharach über vier Dekaden ohne zu langweilen seinen Stil aufrechterhält.

Der Interpret und Texter dieser Kleinode ist Elvis Costello. Ein Fan, der es sich in auch schon recht langer Karriere verdient hat, eine Platte mit seinem Idol einzuspielen (nachdem er sich vor einigen Jahren immerhin schon bis zu Paul McCartney hochgedient hatte). Costello lässt zwar keinen Soul aufkommen wie Dionne Warwick, und seine Stimme wird vom Chor aufgenommen, während Warwicks Organ über dem Chor jubiliert. Doch Costellos Rolle als Inspirator für die Songs und den zeitlosen, nie retrospektiven Sound wiegt das auf.

In den Neunzigern hat sich Musik so sehr verändert, daß ein solches Urteil nicht leicht über die Lippen geht, doch noch vor zehn Jahren wäre dieses Album ohne Wenn und Aber zum Meilenstein erklärt worden.
Seal / Human being

Wann hat die arme Seele Ruh? Werden wir inneren Frieden finden? Erlöst uns Liebe oder erleuchtet uns die Nähe zu Gott? Derartiges beschäftigt den Sänger Seal nun schon auf seiner dritten CD.

Künstler auf ihrem Weg zur spirituellen Läuterung zu begleiten ist für die Mehrheit der Musikinteressierten sicherlich erst einmal wenig verlockend. Doch gerade die Lyrics von Seal lösen sich im Zusammenspiel mit der Musik häufig von ihrer Semantik. Die Aufmerksamkeit wird dann unweigerlich vom Glanz der Klangwelt gestört, die sich mit der eigenen Lesart des Textes schließlich zu einer Wahrnehmung verbindet, die für einige tatsächlich therapeutisches Potential haben mag.

Und die Songs sind so hinreißend, daß sein Publikum diesem Impressionisten noch den theatralischsten Refrain abnimmt. Das rückt Seal in die Nähe von Marvin Gaye (dessen "What's Going On" im übrigen Akkordführung, Stimmung und Instrumentierung einiger Lieder auf "Human being" heraufbeschwören).

Produzent Trevor Horn darf sich dazu an seiner Soundpalette berauschen, riesige Säle voller Steichorchester, Keyboards und Dub-Schlagzeuge konstruieren und diese von billigen Übungsraum-Gitarren und E-Pianos durchwandern lassen. Horn macht es anders als früher, aber er ist immer noch der Großmeister des akzeptablen Bombasts. Köstlich!


1999

Steve Turre / Lotus flower

Es gibt in der Geschichte des Jazz viele bedeutende Saxophonisten, Trompeter, PianistInnen, SängerInnen und Schlagzeuger. Wichtige Posaunisten sind rarer, besonders in den letzten 30 Jahren. Zu ihnen zählt mit Sicherheit Steve Turre. Dieser wiederum gibt auf seinem neuen Album "Lotus Flower" (wie schon auf früheren Veröffentlichungen) zwei Instrumenten eine Chance, die im Bop und Hardbop, der Musik Turres, gar nicht signifikant vertreten sind: das Cello und die Violine.

Neben der Kerngruppe aus Bass, Klavier und Drums kommen auch noch Percussion und ein Gong zum Einsatz. Zum Abschluß bläst Turre synchron auf zwei besonders schönen, großen Muscheln, die sein Sohn einst am Strand von Coos Bay, Oregon, beim Bau einer Sandburg ausbuddelte. Und damit haben wir das Spezielle an dieser CD: die Instrumentierung ist außergewöhnlich - aber so gelungen arrangiert, daß alles organisch und folgerichtig ankommt.

Das geht dann von Ellington-Evokationen (Ray Nances Geige, die Growls der Posaunen) über flotte Latin-Baßfiguren und interessante, rhythmisch akzentuierte Hauptthemen bis zu fontänenartigen Pianoarpeggien. Ein recht kurzweiliges Werk.

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